89-jähriger Krefelder erfindet Märchen Herr van Gemmern und die Stechmücke Monika

Krefeld · Wolfgang van Gemmern ist 89 Jahre alt und blind. Das vergangene Jahr war sehr schwer für ihn, weil seine Frau starb. Um sich abzulenken, dachte er sich Märchen für seine Enkel und Urenkel aus. Und die sind nicht nur wunderbar geschrieben, sondern auch sehr lustig.

 „Komm, machst du mal ein paar schöne Märchen“: Wolfgang van Gemmern in seinem Wohnzimmer in Krefeld.

„Komm, machst du mal ein paar schöne Märchen“: Wolfgang van Gemmern in seinem Wohnzimmer in Krefeld.

Foto: Lammertz, Thomas (lamm)

Es gab viele Nächte, in denen Wolfgang van Gemmern im vergangenen Jahr wach lag. Im Frühjahr hatte er Abschied nehmen müssen von seiner Frau Doris. Sie starb mitten im Corona-Lockdown. Wolfgang van Gemmern war oft allein, weil seine beiden Enkel und fünf Urenkel ihn nicht zu Hause in Krefeld besuchen konnten. „Das war eine ganz traurige Zeit“, sagt der 89-Jährige. Seine Frau und er waren 66 Jahre verheiratet. Als er nachts wieder einmal nicht einschlafen konnte, versuchte er, sich eine Geschichte auszudenken. „Ich wollte mich ablenken und hab gedacht: Komm, machst du mal ein paar schöne Märchen“, erzählt van Gemmern. Zuerst dachte er sich „Die nudeldicke Prinzessin aus“. Dann Geschichten über eine kurzsichtige Löwendame namens Leopoldina, die verrückte Straßenbahn Gundula und den Frosch Jacob, der zum ersten Mal auf Reisen geht. Die Geschichte vom Frosch endet mit einem großen Fest am Teich, bei dem der Frosch mit den schönsten Schenkeln gekürt wird.

Die Märchen entstehen vollständig in van Gemmerns Kopf, er ist seit sechs Jahren blind. Morgens diktiert er sie dann seiner „Hausdame“, wie er Gordana Smitka nennt, eine Pflegerin, die bei ihm lebt und sich um ihn kümmert. Van Gemmerns Tochter Ute Herrmann bekommt die Blätter dann und liest alles Korrektur. „Inzwischen sind es schon zehn Märchen für die Urenkel geworden“, sagt sie. Die Urenkel, vier Jungs und ein Mädchen, sind die Märchentester. „Ich wusste ja nicht, ob ich das kann oder ob meine Familie sagt, der Alte ist verrückt“, sagt van Gemmern. Aber die Kinder, der Kleinste ist zwei, der Älteste acht Jahre alt, lieben die Geschichten ihres Uropas Wolfgangs, wie sie ihn nennen. „Emma kann die Märchen inzwischen auswendig“, sagt Ute Herrmann. Und so kommt es vor, dass die Siebenjährige den Uropa anruft und ihm seine eigenen Märchen erzählt.

Da van Gemmern seine erste Corona-Impfung erst im März bekommt, hat er immer noch keinen direkten Kontakt zu den Kindern. Die Geschichten handeln von der Liebe, vom Zusammenhalt und von Hilfsbereitschaft. So kommen die Mäuse Max und Mausi mit ihren Kindern bei einer Fledermausfamilie unter, weil eine Katze sie aus ihrem alten Zuhause verjagt hat. „Sie waren zwar nicht reich wie in ihrem früheren Wohnsitz“, heißt es in dem Märchen. „Es gab auch nicht Schinken und Pralinen im Überfluss, aber Milch und Körner. Das Wichtigste aber war, dass sie zusammen waren.“

Wolfgang van Gemmern hat als Bauunternehmer gearbeitet, bis er 73 war. Heute führt sein Sohn das Unternehmen. „Mit Geschichten ausdenken hatte ich früher nichts am Hut“, sagt er. „Da war auch gar keine Zeit, ich musste ja immer arbeiten.“ Er lacht. Wenn er heute in seine Phantasiewelten reist und sich Prinzessinen- und Tiergeschichten ausdenkt, vertreibt ihm das die Langeweile, wie er sagt. Am liebsten hätte er ein Aufnahmegerät, aber es ist nicht einfach, ein passendes zu finden. „Ich bräuchte ein ganz Einfaches, ich sehe ja nicht, ob da ein roter Knopf leuchtet oder nicht.“ Seine Tochter sagt, er tue sich wegen seines Alters auch ein wenig schwer mit der ganzen neuen Technik. Da sagt van Gemmern: „Also so alt bin ich ja noch gar nicht“. Im Dezember wird er 90 Jahre alt, spätestens bis dahin will seine Familie alle Märchen zu einem Buch gebunden haben, es soll 25 Exemplare geben.

 Monika, die Stechmücke. Illustration von Gordana Smitka.

Monika, die Stechmücke. Illustration von Gordana Smitka.

Foto: Gordana Smitka

Seine neueste Geschichte handelt von der Stechmücke Monika, die sich als Impfschwester verkleidet, um einen älteren Herren stechen zu können. „Die armen Mücken kriegen ja gerade nix zu fressen, weil die Menschen alle so dick angezogen sind, und ich hab mir überlegt, wie man das ändern könnte“, sagt van Gemmern. Verkleidet mit einer Mini-Schürze legt die Mücke den Rentner rein und zapft ihm jede Menge Blut ab. Der Impftermin sei vorverlegt worden, erzählt sie ihm. Aber, wie das im Märchen so ist, Gier und Niedertracht werden bestraft. Und so endet das Leben der Stechmücke Monika, weil sie von einem Frosch gefressen wird. „Abschließend spuckte der Frosch noch die kleine Krankenschwesterhaube und die weiße Schürze aus“, heißt es in der Geschichte.

Die Pflegerin Gordana Smitka hilft van Gemmern nicht nur beim Aufschreiben der Geschichten. „Sie kann wunderschön malen“, sagt van Gemmern. Inzwischen hat sie sämtliche Märchen illustriert. „Ich bin so wieder zum Zeichnen gekommen, das habe ich lange nicht mehr gemacht“, sagt Gordana Smitka.Es gibt immer noch Nächte, in denen van Gemmern nicht schlafen kann. Aber er weiß jetzt, wie er sich ablenken kann. Und deshalb wird die Stechmücke Monika nicht seine letzte Märchenfigur sein. „Ich will meinen Enkeln und Urenkeln was Schönes hinterlassen“, sagt er.

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