Kommentar zum Apotheker-Urteil Mehr war leider nicht zu holen
Essen · Zwölf Jahre muss der Bottroper Apotheker Peter S. ins Gefängnis. Als Strafe für tausendfache Unterdosierung von Krebsmedikamenten ist das viel zu wenig – aber mehr gibt die Rechtslage schlicht nicht her.
Zwölf Jahre Haft minus vermutlich ein paar für gute Führung und die Beschlagnahmung von 17 Millionen Euro. Das ist nicht wenig und doch eine viel zu niedrige Strafe für Peter S., den Bottroper Apotheker, der anstatt seinen hochangesehenen Heilberuf auszuüben das Gegenteil tat: Wenig bis gar keinen Wirkstoff in die individuell angemischten Chemotherapien geben, die Patienten leiden lassen und sich von den Krankenkassen die Kosten für die „volle Portion“ erstatten lassen. Ungezählte Male.
Wegen Körperverletzung wurde S. nicht verurteilt, wegen Totschlags oder Mord erst recht nicht. Aber das hat formale Gründe. Zu komplex sind die Krankheitsverläufe, zu weit fortgeschritten war die Zeit, um entsprechende Untersuchungen anzustellen, als die Ermittler sich einigermaßen sortiert hatten. In der Urteilsbegründung ließ der Richter aber keinen Zweifel daran: Tausenden krebskranken Menschen hat S. unnötiges zusätzliches Leiden eingebrockt und unbezahlbare Lebenszeit genommen.
Und danach hat S. ohrenbetäubend laut geschwiegen, von seiner Festnahme bis heute. 583 Tage lang, 14.000 Stunden. 50 Millionen Sekunden ließ er stoisch verstreichen, also 50 Millionen Möglichkeiten, doch für Aufklärung zu sorgen und für eine Art Heilung, wenn schon nicht körperlich, dann wenigstens seelisch. Stattdessen: Nichts. Kein Minimum an Kooperation. Kein Wort zu den Behördenvertretern und Medizinern, außer zu einem Gutachter, den er dabei nach Überzeugung des Gerichts zu täuschen versuchte. Kein Erklärungsversuch. Schon gar kein Wort der Reue oder Entschuldigung gegenüber seinen leidenden und sterbenden Opfern oder deren Hinterbliebenen. Eltern, Kinder, Witwen, Waisen.
Halb aus einer Art Gottkomplex heraus muss er gehandelt haben und halb aus ganz banaler, schnöder Geldgier – die besonders unverständlich erscheint angesichts seiner Finanzlage. Reich war S. von Kindesbeinen an und wäre es auch immer geblieben. 40 Millionen Euro setzte er mit seiner Großapotheke zuletzt um, pro Jahr. Die Anmischung individueller Krebsmedikamente ist ein höchst einträgliches Geschäft, auch wenn man sie regulär nach bestem Wissen und Gewissen betreibt.
Doch S. nutzte die Lücke systematisch aus, die skandalöserweise bis heute existiert: Niemand kontrolliert im Alltag die Labors, in denen die Chemotherapien angemischt werden, schon gar nicht unangekündigt. Und niemand stellt auch nur den simpelsten aller Abgleiche an: Hat ein Apotheker die Wirkstoffmengen, die er sich mit Millionen Euro von den Krankenkassen erstatten lässt, überhaupt je eingekauft? Das hat S. zu seinem profitablen Geschäftsmodell gemacht. Mehr noch: laut Überzeugung des Gerichts hat er sogar Mitarbeiter angestiftet und extra bezahlt, um es ihm gleichzutun. "Fünf Jahre lang hat er sein kriminelles Unwesen getrieben“, sagte der Richter, „und er hätte es weiter getan, wenn ihn nicht einige wenige mutige Menschen gestoppt hätten." Gemeint sind der Whistleblower Martin Porwoll und eine mutige Kollegin.
So oft die Opfer während des Prozesses auch geflucht haben, über Ermittlungspannen und den zahmen Staatsanwalt: Zumindest der Richter Johannes Hidding hat sehr viel richtig gemacht. In voller Absicht ließ er den Verteidigern extrem viel durchgehen. Trotz des Wissens um die Negativschlagzeilen verzichtete er im Prozess konsequent sowohl auf die Auswertung von Patientenakten als auch auf die direkte Befragung potenzieller Opfer – denn das hätte den vier Verteidigern unzählige Angriffspunkte geliefert. Zu uneindeutig sind die Krankheitsverläufe, zu viel Interpretation wäre notwendig geworden, zu gering war die Chance, S. die Schuld an auch nur einem bestimmten verfrühten Todesfall gerichtsfest nachzuweisen. Peinlich genau hat der Richter stets darauf geachtet, in jedem Detail im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden, angefangen bei der Definition von „Unterdosierung“, wo er S. großzügige Toleranzen zugestand.
Verurteilt wurde S. deshalb schließlich für Medikamentenpanscherei in „nur“ 14.500 statt 60.000 Fällen, die Schadenshöhe wurde auf 17 Millionen statt wie in der Anklageschrift 56 Millionen Euro festgesetzt – am Strafmaß ändert das ohnehin nichts. Der Bundesgerichtshof aber dürfte dieses Urteil kaum zur Revision annehmen. Denn so lächerlich niedrig das Strafmaß für diese monströsen Taten erscheinen mag, so unangreifbar ist es. Wenn und sobald es rechtskräftig wird, ist das Minimum an Gerechtigkeit geschaffen, das sich rechtsstaatlich in diesem Fall schaffen ließ. Dann ist die Bahn frei für Zivilklagen auf Schmerzensgeld. Dann geht es S. ans Heiligste. An den Geldbeutel.
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