Lange Haftstrafe für katholischen Priester „Die Kinder haben Ihnen ihre Herzen geöffnet“

Köln · Drei Monate dauerte der Prozess gegen einen ehemaligen katholischen Priester vor dem Kölner Landgericht. Nun wurde der 70-Jährige wegen vielfachen sexuellen Kindesmissbrauchs zu einer langen Haftstrafe verurteilt.

 Der angeklagte katholische Priester am Tag der Urteilsverkünding im Gerichtssaal. 

Der angeklagte katholische Priester am Tag der Urteilsverkünding im Gerichtssaal. 

Foto: dpa/Federico Gambarini

Eines der Mädchen, damals war es im Grundschulalter, versuchte sich einmal mit einer Lüge gegen den sexuellen Missbrauch zu wehren. Das Kind sagte Hans U. auf einer gemeinsamen Autofahrt, es habe seiner Mutter erzählt, dass es immer nackt mit ihm in seinem Wasserbett schläft – die Mutter habe das nun verboten. Doch der Priester durchschaute die kindliche Notlüge. Das Mädchen hatte sich niemandem anvertraut. Nach der Ankunft am Pfarrhaus nahm er es mit in die Kirche. Dort musste das Kind beichten, weil es ihn angelogen hatte.

Das Mädchen ist eines von neun Opfern, die sich der ehemalige Priester Hans U. vertraut gemacht hat, um sich an ihnen zu vergehen. Oft über Jahre. Am Freitag verurteilte die 2. Große Strafkammer des Landgerichts Köln den 70-Jährigen dafür zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Das Gericht ist davon überzeugt, dass U. seine Opfer zwischen 1993 und 2018 in insgesamt 110 Fällen sexuell missbraucht hat. Drei Frauen muss er Schmerzensgeld in Höhe von 5000, 10.000 und 35.000 Euro zahlen.

In der fast dreistündigen Urteilsbegründung stellt der Vorsitzende Richter Christoph Kaufmann immer wieder die Opfer in den Mittelpunkt. Sie seien die „Heldinnen des Verfahrens“, weil sie maßgeblich dazu beigetragen haben, aufzuklären, was über viele Jahre verborgen geblieben war. Denn schon 1979 hat U. ein Mädchen schwer sexuell missbraucht, seine Pflegetochter. „Sie waren nicht die Lichtgestalt, als die Sie wahrgenommen wurden“, sagt Kaufmann, während er U. anblickt. „Sie sind ein pädophiler Serientäter, der über vier Jahrzehnte Missbrauch betrieben hat.“

In seinen jeweiligen Gemeinden in Gummersbach, Wuppertal und Zülpich war U. sehr beliebt. Für viele Kinder – oft aus prekären Verhältnissen stammend – war er Ersatzvater, Nenn-Onkel oder Patenonkel. Mit den Eltern war er teilweise gut befreundet, sie waren oft selbst in der Kirchengemeinde aktiv und hatten keine Bedenken, ihre Töchter auch mal übers Wochenende im Pfarrhaus zu lassen. Als Krankenhausseelsorger betreute U. einen schwer erkrankten Arzt, die beiden Männer wurden enge Freunde. U. missbrauchte nicht nur die beiden Töchter des Arztes, sondern auch eine Freundin der Töchter. Alle drei Mädchen schwiegen über viele Jahre. Noch nicht mal die Schwestern vertrauten sich die „fürchterlichen sexuellen Übergriffe“, wie Kaufmann sagt, gegenseitig an. Mit zwölf Jahren wurde eine von ihnen verhaltensauffällig. Und der Priester bot sich als Therapeut an, um den „pubertären Jähzorn“ zu behandeln. Mit den Eltern schloss er darüber einen „Therapievertrag“ ab. Das Mädchen musste sich darin dazu verpflichten, einmal im Monat ein Wochenende bei U. zu verbringen. Derart ausgeliefert ging der Missbrauch des Kindes noch über Jahre weiter.

 Christoph Kaufmann, Vorsitzender Richter der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Köln.

Christoph Kaufmann, Vorsitzender Richter der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Köln.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Auch die drei Nichten des Priesters zählen zu den Opfern, sie haben als Nebenklägerinnen am Verfahren teilgenommen. Ihre Fälle gehörten zur ursprünglichen Anklage, doch während des Prozesses hatten sich nach und nach immer mehr Hinweise auf weitere Geschädigte ergeben und die Anklage wurde erweitert. Etliche Taten sind bereits verjährt. Und weitere Ermittlungen dauern noch an. „Wir haben hier noch viele Zettel mit Namen“, sagt Kaufmann.

U. hat im Prozess ein Teilgeständnis abgelegt, das den Frauen eine Aussage vor Gericht aber nicht ersparen konnte, weil es zu dürftig war. Er beschuldigte eine der Lüge, sie habe sich die Geschichte ihrer Schwester angeeignet, ließ U. einmal über seinen Verteidiger mitteilen. Eines der Mädchen, das er besonders schwer missbraucht hat, habe er kaum gekannt, behauptete U. „Sie haben uns hier dreist ins Gesicht gelogen“, sagt Kaufmann. Die Kammer habe sich teilweise gefühlt wie „Brüder im Nebel“, sagt Kaufmann in Anspielung auf die Beschriftung eines Aktenordners, den der Kölner Erzbischof Kardinal Joachim Meisner für geheimhaltungsbedürftige Unterlagen angelegt hatte.

Kaufmann nennt U. einen „Meister der Manipulationen“ ohne Empathie, der seine Opfer eingeschüchtert und beschämt habe. Auch wenn es im Laufe der Jahre immer wieder Verdächtigungen gab, etwa geraunt wurde „Passt auf eure Kinder auf“, so konnte er letztlich trotzdem immer weitermachen. Die Institution Kirche sei „ein Akteur in diesem Drama“, wie Kaufmann sagt. Jahrelang sei der völlig distanzlose Umgang des Geistlichen mit Kindern ignoriert worden.

Verantwortlichkeiten wurden im Fall U. im Erzbistum von einem zum anderen geschoben. Erstmals mussten in Deutschland zwei hohe kirchliche Würdenträger in einem Missbrauchsverfahren aussagen. Die Strafkammer vernahm unter anderem Günter Assenmacher, einen früheren Kirchenrichter des Erzbistums, und den heutigen Hamburger Erzbischof Stefan Heße. Beide Vernehmungen machten deutlich, dass das Erzbistum nichts unternommen hat, um eigene kirchenrechtliche Ermittlungen im Fall U. anzustrengen, der schon 2010 im Verdacht stand, seine Nichten missbraucht zu haben. U. wurde zwar erst beurlaubt, dann versetzt, aber ohne Auflagen – etwa die, sich von Kindern fernhalten zu müssen. Eine Mitverantwortung haben die Zeugen bestritten.

Warum U. sich zu einem Serientäter entwickelt hat, sei letztlich rätselhaft geblieben, wie Kaufmann sagt. Einem Psychiater gegenüber blieb U. verschlossen. „Ich bin nicht an ihn rangekommen“, sagte der Gutachter. Er bescheinigte U. eine narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung. Um seine eigenen Ziele zu erreichen, habe U. „rücksichtslos Beziehungen und Freundschaften ausgebeutet“. Ein besonders perfides Beispiel dafür, dass U. stets anderen die Schuld gibt, nennt Kaufmann: U. warf den Eltern der von ihm missbrauchten Schwestern vor: „Ihr habt die Kinder doch bei mir übernachten lassen.“ Reue oder Schuldgefühle habe er im Prozess nicht erkennen lassen.

„Als Kirchenmann waren Sie für die Kinder der Repräsentant Gottes auf Erden“, sagt Kaufmann zu U. „Die Kinder haben Ihnen ihre Herzen geöffnet.“ Auch deshalb seien ihre Traumatisierungen besonders schlimm. „Sie mussten damit viele Jahre alleine leben.“ Die Mädchen sind heute erwachsene Frauen. Aber jede Einzelne macht sich Vorwürfe, durch ihr Schweigen das Leid der anderen vielleicht erst möglich gemacht zu haben. „Aber es gibt nur einen Verantwortlichen – und das sind Sie“, sagt Kaufmann zu U. Der lässt auch an diesem letzten Tag keine Regung zu.

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