63-Jährige soll Schwerkranken vergiftet haben „Ich habe immer auf meinen älteren Bruder aufgepasst“

Köln · Eine 63 Jahre alte Frau soll ihren schwerkranken älteren Bruder mit einem Medikamenten-Cocktail vergiftet haben. Er starb. Nun steht sie wegen Mordes in Köln vor Gericht und sagt, sie habe ihn erlösen wollen.

 Die Angeklagte Ursula N. (r.) mit ihrer Verteidigerin Ulrike Tasic am Montag im Kölner Landgericht.

Die Angeklagte Ursula N. (r.) mit ihrer Verteidigerin Ulrike Tasic am Montag im Kölner Landgericht.

Foto: RPO/Claudia Hauser

Ursula N. sagt, ihr großer Bruder sei immer schon das Sorgenkind der Familie gewesen. Zu früh geboren, sei er schon als Kind schwächlich gewesen – und der Liebling der Mutter. Als sie selbst 1958 geboren wurde, war ihr Bruder ein Jahr alt, trotzdem seien sie später zusammen in den Kindergarten und die Schule gekommen, weil er leicht reifeverzögert gewesen sei. „Ich habe immer auf meinen älteren Bruder aufgepasst“, sagt die heute 63-Jährige am Montag im Kölner Landgericht. Sie ist angeklagt, ihren Bruder im September vergangenen Jahres in Köln heimtückisch getötet zu haben. Sie selbst sagt nach einer stundenlangen Einlassung zu ihrem Leben und zu den schweren Vorwürfen: „Der Tod ist nicht unbedingt etwas Schlechtes – der Tod ist auch die Erlösung.“ Sie habe ihren Bruder vor einem jahrelangen Siechtum bewahren wollen.

Ursula N. war seit 2014 die gesetzliche Betreuerin ihres Bruders, der seit einem schweren Motorradunfall 1976 schwer behindert war. Er konnte aber viele Jahre selbstständig in einer Wohnung leben und arbeitete in einer Behindertenwerkstatt. 2014 wurde er aber auf dem Weg zur Arbeit mit dem Rad von einem rechts abbiegenden Lastwagen erfasst und schwer verletzt. Seitdem litt er zusätzlich unter Epilepsie, brauchte Hilfe im Alltag. Ursula N. zog erst zu ihm, dann in eine eigene Wohnung im selben Haus und kümmerte sich um ihn. Sie selbst war vorher viele Jahre im Ausland, erst auf den kanarischen Inseln, später in Indien, wo sie sich einer Gemeinschaft angeschlossen hatte. „Keine Sekte“, wie sie betont. Sie ist Mutter von zwei Töchtern und einem Sohn. Zurück in Köln lebte sie von Hartz IV.

Die Staatsanwaltschaft ist davon überzeugt, dass Ursula N. ihren Bruder töten wollte, weil eine Amtsrichterin einen neuen Betreuer bestellt und eine dauerhafte Unterbringung des Mannes in einer Pflegeeinrichtung geplant hatte. Eine Ergotherapeutin hatte blaue Flecken an den Armen des Bruders entdeckt und das zur Anzeige gebracht. Ursula N. stand im Verdacht, ihrem Bruder die Verletzungen zugefügt zu haben. Klar habe sie ihn manchmal fester anpacken müssen, sagt sie. Einmal habe sie ihn nur durch ihr beherztes Zupacken davor bewahrt, auf eine stark befahrene Straße zu fahren mit einem Dreirad, dass er seit dem Radunfall statt eines Fahrrads hatte.

Sie soll laut Anklage schließlich 100 Beruhigungstabletten in einen Bananenbrei gemischt haben, den sie dem Bruder zu essen gab. Er starb, nachdem er den vergifteten Brei gegessen hatte. Auch Ursula N. wollte sich laut Anklage das Leben nehmen, doch sie überlebte die Medikamentenüberdosis und ist seit dem 21. September 2021 in Haft.

Sie sagt vor Gericht, ihr Bruder habe mehrmals geäußert, lieber sterben zu wollen als in ein Heim zu gehen. „Er war organisch topfit, hatte eine Lebenserwartung von 20 bis 30 Jahren“, sagt Ursula N. Im schlimmsten Fall seien das 30 Jahre Siechtum in einem Heim. „Davor wollte ich ihn bewahren.“ Irgendwann wäre im Heim womöglich in ein Wachkoma gefallen, sagt sie. „Und das hätte er nie und nimmer gewollt – auch unsere Eltern hätten das nicht gewollt.“ Die Eltern waren inzwischen bereits verstorben, mit den beiden weiteren, jüngeren Geschwister sprach Ursula N. offenbar nicht über ihre Sorge, der Älteste könne kreuzunglücklich werden in einem Pflegeheim.

Den Entschluss, seinem Leben stattdessen ein Ende zu setzen, fasste sie allein. Sie erzählt aber, dass sie ihn eingeweiht habe in ihren Plan, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. „So, wie ich in den Kindergarten mit dir gegangen bin, so gehe ich auch jetzt mit“, habe sie zu ihm gesagt. Er habe wiederholt, dass er sterben wolle. „Ich habe ihm gesagt, dass er keine Schmerzen haben und friedlich einschlafen wird.“ Nicht in einen Brei, sondern in einen Bananen-Shake habe sie ihm die Tabletten gegeben. Er habe gewusst, dass die Medikamente in dem Getränk seien und habe es freiwillig und eigenständig getrunken.

An jemen Tag sei ihr Bruder noch beim Sommerfest der Behindertenwerkstatt gewesen. „Das war sein letzter Tag“, sagt Ursula N. Es habe dann aber eine ganze Zeit gedauert, bis das Herz ihres Bruders aufgehört habe zu schlagen. „Er ist immer nochmal aufgewacht – um 3 Uhr nachts hat er dann nicht mehr geatmet.“ Ursula N. sagt, sie sei vorher noch rausgegangen, habe Abschiedsbriefe an ihre Kinder und ihre beiden Geschwister in den Briefkasten geworfen. Dann sei sie in ihre Wohnung gegangen und habe selbst Medikamente genommen und später noch ein Betäubungsmittel getrunken. „Ich hatte mein Leben gelebt, ich hatte meine Abenteuer“, sagt sie. Und ihre Kinder seien längst selbstständig. Doch sie wurde gefunden und in eine Klinik gebracht.

„Hatten Sie irgendwann nochmal Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war?“, fragt die Vorsitzende Richterin. „Nein“, antworte Ursula N. „Ich fand es 100 Prozent richtig, ich hatte das Gefühl, er ist erlöst – es war richtig.“ Suizidgedanken habe sie im Gefängnis nicht mehr. Das Leben dort sei besser als eins im Altenheim irgendwann, sagt sie. „Da habe ich junge Leute aller Nationalitäten um mich, eine schöne Anstaltsbibliothek, im Winter eine mollige Decke und muss mich um nichts kümmern.“ Dass ihr Motiv für den Mord möglicherweise die Angst vor einem sozialen Absturz sein könnte, greift die Angeklagte selbst auf, um dagegen zu argumentieren: „Ich kam immer gut aus mit dem Hartz-IV-Satz“, sagt sie. Das Pflegegeld und eine Aufwandsentschädigung von 300 bis 400 Euro, die sie sich selbst vom Gehalt ihres Bruders zugewiesen hatte – wohl mit seinem Einverständnis – habe sie nicht gebraucht.

Ein Urteil wird für Ende Mai erwartet.

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