Prozess gegen Kölner Müllwagenfahrer Wenn dreieinhalb Sekunden alles verändern

Köln · Ein Müllwagenfahrer übersieht in Köln einen Siebenjährigen beim Abbiegen, das schwere Fahrzeug überrollt den Jungen. Wegen fahrlässiger Tötung musste der 38-Jährige sich nun vor dem Amtsgericht verantworten.

 Der angeklagte Müllwagenfahrer am Mittwoch im Kölner Amtsgericht.

Der angeklagte Müllwagenfahrer am Mittwoch im Kölner Amtsgericht.

Foto: dpa/Marius Becker

Aslan E. kannte die Strecke durch die engen Straßen der Siedlung im Kölner Stadtteil Widdersdorf gut. 200 Mal war er sie gefahren in den vier Jahren, in denen er schon als Müllwagenfahrer bei den Abfallwirtschaftsbetrieben (AWB) angestellt war. Dann kommt der Morgen des 28. Mai 2018. Ein kleiner Junge, sieben Jahre alt, ist auf dem Weg zur Schule. Mit seinem Rad fährt er seinem Vater hinterher. Um 7.45 Uhr biegt Aslan E. mit dem Müllwagen rechts ab in eine Stichstraße. Das Kinderrad prallt gegen den Vorderreifen, der Junge stürzt, liegt bäuchlings auf der Straße und wird von der Hinterachse des Fahrzeugs überrollt. Er ist sofort tot.

Fast ein Jahr später sitzt Aslan E. am Mittwoch auf der Anklagebank im Kölner Amtsgericht. Er muss sich wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Die Staatsanwaltschaft ist davon überzeugt, dass der 38-Jährige das Kind gesehen hätte, wenn er in den Seitenspiegel geschaut hätte. Dreieinhalb Sekunden war der Junge dort nach Auffassung eines Gutachters zu sehen. Aslan E. blickt mit gesenktem Kopf zu Boden. Er hat selbst zwei Kinder, 14 und 16 Jahre alt, seit dem Unfall ist er krankgeschrieben und in psychologischer Behandlung. Sein Anwalt sagt: „Er ist in einem desolaten Zustand.“ Die Straße sei entgegen der Sachverständigen-Darstellung wegen einiger geparkter Autos nicht richtig einsehbar gewesen. Der Junge fuhr auf dem Gehweg. Den Vater des Kindes habe der Müllwagenfahrer noch wahrgenommen. „Der Vater fuhr mit dem Rad 30 bis 40 Meter vor dem Jungen“, sagt sein Verteidiger. „Das Kind war auch durch einen Weitwinkelspiegel vermutlich nicht zu sehen.“ Die Amtsrichterin hakt nach: „Vermutlich?“ Der Anwalt sagt: „Fest steht: Er hat das Kind nicht gesehen.“

Der Müllwagen fuhr elf Kilometer pro Stunde, als er abbog. Das Kind muss mit zwölf Kilometern pro Stunde unterwegs gewesen sein. Das alles konnten Experten berechnen. Die dreieinhalb Sekunden, in denen der Fahrer den Jungen hätte sehen können, „haben viele Leben verändert“, wie die Amtsrichterin sagt. Nach dem Unfall mussten damals zehn Feuerwehrleute und sechs Polizisten ihren Dienst abbrechen und psychologisch betreut werden – so wie auch der Vater des Jungen und weitere Angehörige und Zeugen. Der Angeklagte sagt: „Es tut mir sehr leid für die Familie. Ich bin selbst Vater zweier Kinder und würde es sehr gern rückgängig machen.“

Mai 2018: Der Müllwagen steht nach dem Unfall in Köln-Widdersdorf.

Mai 2018: Der Müllwagen steht nach dem Unfall in Köln-Widdersdorf.

Foto: dpa/Henning Kaiser

Nach einem nicht öffentlichen Rechtsgespräch zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Nebenkläger verkündet die Amtsrichterin ihre Entscheidung: Das Verfahren gegen Aslan E. wird eingestellt. Der Tod des Jungen sei durch ein „tragisches Unfallgeschehen“ verursacht worden. E. muss ein Monatsgehalt, 2000 Euro, an ein Kinderhospiz zahlen.

Die AWB wollen bis Ende dieses Jahres ihre 200 Müllwagen mit dem so genannten „Birdview“-System ausstatten, um Abbiegeunfälle künftig zu vermeiden. Kameras sollen die Umgebung und den toten Winkel damit nahezu vollständig darstellen.

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