Explosion in der Kölner Keupstraße „Die Bombe war für uns alle gedacht“

Köln · 22 Menschen wurden verletzt, als in der Kölner Keupstraße 2004 eine Nagelbombe explodierte. Jahrelang gingen die Ermittler von einer Milieustraftat aus, von Rache, Schutzgeld. Wie geht es den Anwohnern heute?

Köln: Nagelbombenanschlag lässt Keupstraße nicht los
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Servet Özdag weiß noch, dass es irgendeinen Streit gab mit seiner Freundin damals. Er erinnert sich daran, dass er genervt war, als die Nachbarin ihn während der Diskussion rausklingelte und ihn bat, seinen Lieferwagen wegzufahren vor ihrem Geschäft in der Keupstraße. Er ließ den Sprinter erstmal stehen. Die Familie Özdag hat eine Konditorei auf der Straße in Köln-Mülheim. Im Lieferwagen waren Torten, Kekse und Baklava, die er ausliefern wollte. Dann knallte es. „Wir haben die Druckwelle im Haus gespürt“, sagt der 42-Jährige. Er lief auf die Straße, dort herrschte Chaos. 28 lange Nägel steckten in seinem Lieferwagen oder hatten sich durchgebohrt. „Ich habe sie auch aus den Torten gezogen“, sagt Özdag.

Die Nagelbombe war am 9. Juni 2004 um 15.56 Uhr schräg gegenüber der Konditorei vor einem Friseurladen per Fernsteuerung gezündet worden. Mehr als 700 Zimmermannsnägel schossen durch die Luft. 22 Menschen wurden verletzt, vier von ihnen schwer. Die Wucht der Detonation verteilte die Metallnägel bis zu 100 Meter weit. Heute ist bekannt, dass die rechtsextreme Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) für den Nagelbomben-Anschlag verantwortlich war. Die Bombe befand sich in einem Hartschalenkoffer auf dem Gepäckträger eines Damenrads. Die Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zündeten sie und fuhren auf zwei Mountainbikes davon. Doch bis die Ermittler den Anschlag dem NSU zuordneten, mussten die Geschäftsleute und Anwohner der Keupstraße mit Verdächtigungen und Vorurteilen leben. Sieben Jahre lang.

 Servet Özdag vor seiner Konditorei in der Keupstraße.

Servet Özdag vor seiner Konditorei in der Keupstraße.

Foto: RPO/Claudia Hauser

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Die Ermittler waren sich im Sommer 2004 schnell sicher, es mit einer Milieustraftat zu tun zu haben. Von einem Racheakt war die Rede, von Schutzgeld, das möglicherweise nicht gezahlt worden war. Hinweise der Anwohner, der Anschlag könnte rassistisch motiviert sein, wurden beiseite gewischt. Ein ausländerfeindliches Motiv wurde ausgeschlossen. Der NSU wurde erst am 4. November 2011 enttarnt, als Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfall in Eisenach tot in einem Wohnmobil gefunden wurden. Mundlos soll zuerst Böhnhardt, dann sich selbst erschossen haben. Die Terrorgruppe hatte zwischen den Jahren 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordet. Ihnen werden auch 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und fünfzehn Raubüberfälle in Deutschland zugeordnet. Mittäterin und NSU-Mitglied Beate Zschäpe wurde 2018 zu lebenslanger Haft verurteilt.

 Das Haus Nummer 29 in der Kölner Keupstraße. Hier verübte der NSU am 9. Juni 2004 einen Bombenanschlag. Der Friseurladen ist inzwischen nicht mehr dort. (Archivbild)

Das Haus Nummer 29 in der Kölner Keupstraße. Hier verübte der NSU am 9. Juni 2004 einen Bombenanschlag. Der Friseurladen ist inzwischen nicht mehr dort. (Archivbild)

Foto: dpa/Henning Kaiser

Dass hinter dem Nagelbombenanschlag niemand von ihnen steckt, wussten die Geschäftsleute der Keupstraße eigentlich von Anfang an. „Mal sollten es Rocker-Rivalitäten gewesen sein, mal PKK-Anhänger oder die Grauen Wölfe“, sagt Servet Özdag. „Aber uns war klar: Das war keine Tat im Milieu. Die Bombe war für uns alle gedacht.“ Für die Menschen der Keupstraße hatten die Verdächtigungen Folgen: Die Straße mit ihren vielen türkischen Restaurants, Konditoreien und Geschäften wurde gemieden, einige Inhaber mussten schließen, weil die Kunden weg blieben.

Özcan Yildirim, der Inhaber des Friseursalons, vor dem die Bombe hochgegangen war, musste im Februar 2013 mit den Tränen kämpfen, als Kölns damaliger Polizeipräsident Wolfgang Albers sich in der Keupstraße offiziell entschuldigte. Immer wieder hatten die Ermittler Yildirim nach dem Anschlag vor den Augen seiner Kinder zu Hause abgeholt, wieder und wieder verhört. „Die eigentliche Bombe explodierte nach dem Anschlag“, sagte er zu Albers. Der Polizeipräsident entgegnete: „Das Schlimme ist, dass niemand für möglich gehalten hat, dass es eine rechte Mörderbande in Deutschland gibt."

 Ein Polizist sichert im Juni 2004 Spuren in der Keupstraße. (Archivbild)

Ein Polizist sichert im Juni 2004 Spuren in der Keupstraße. (Archivbild)

Foto: dpa/Federico Gambarini

Yildirim war irgendwann alles zu viel. Er verkleinerte zuerst sein Geschäft, schnitt die Haare seiner Kunden nur noch in einem Hinterzimmer. Heute ist ein Juwelier im ehemaligen Friseurladen, dem Haus mit der Nummer 29. Yildirim hat inzwischen einen anderen Salon, wieder in der Keupstraße, aber weiter weg vom alten Laden, in dem immer Erinnerungen wach wurden, wenn draußen irgendwo ein Fahrrad lehnte. Angesprochen auf die Ereignisse von damals winkt Özcan Yildirim ab. „Nein“, sagt er. „Ich möchte dazu nichts mehr sagen.“ Heute, sagt er, gehe es ihm wieder gut.

Unter dem Motto „Kein Schlussstrich!“ läuft aktuell bis 7. November ein bundesweites Theaterprojekt zum NSU-Komplex. Im Kölner Schauspielhaus wird das Stück „Die Lücke 2.0“ aufgeführt. Auf der Bühne stehen drei Betroffene aus der Keupstraße, die erzählen, wie das Leben in Deutschland sich anfühlt, nach den jüngsten Anschlägen in Halle, Hanau und Kassel. Zu ihnen gehört Ayfer Sentürk-Demir, die beim Bombenanschlag gegen die Wand des Reisebüros geschleudert wurde, in dem sie damals arbeitete.

Servet Özdag, der Konditor, baut gerade das Geschäft auf der Keupstraße um, das er mit seinen Geschwistern führt. Alles soll größer und schöner werden. Die Nachbarin, die sich damals geärgert hatte, dass er den Lieferwagen vor ihrem Geschäft parkt, hat sich später bei ihm bedankt. „Wenn der Sprinter da nicht gestanden hätte, wäre sie möglicherweise auch verletzt worden“, sagt Özdag. „Sie meinte zu mir: Danke, dass du so stur warst.“

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