„Sehr defizitorientiert“ Kinderpsychiater ordnet Winterhoffs Methoden ein

Interview | Bonn · Dietmar Fernholz praktizierte als Kinder- und Jugendpsychiater in Sankt Augustin. Einige seiner Patientinnen und Patienten wechselten von der Praxis Winterhoff zu ihm. Im Interview ordnet er Winterhoffs Methoden ein.

 Der Bonner Psychotherapeut Michael Winterhoff.

Der Bonner Psychotherapeut Michael Winterhoff.

Foto: Peter Wirtz

Wie haben Sie Dr. Winterhoff in Erinnerung?

Dietmar Fernholz Wir haben vermehrt gehört, dass die Zeit, die dort für das Gespräch mit dem Arzt und für die Anamnese zur Verfügung stand, sich auf 20 bis 30 Minuten beschränkte, nach denen die Diagnose feststand. Patienten und Eltern berichteten auch, angeherrscht worden zu sein und das Gefühl vermittelt bekommen zu haben, auf ganzer Linie versagt zu haben. Das ist der Tenor, den ich oft gehört habe. 

Das ist aus Laiensicht nicht das, was man beim Kinder- und Jugendpsychiater erleben möchte.

Fernholz Jeder kann Therapien so durchführen, wie er es gelernt hat, da gibt es ein individuelles Spektrum. Aber es gibt eben auch geltende wissenschaftliche Standards, und ich bin sehr hellhörig geworden, als ich die Bücher von Dr. Winterhoff gelesen habe. Das ist nicht die Kinder- und Jugendpsychiatrie, so wie sie sich in den letzten Jahrzehnten deutlich und sehr positiv entwickelt hat. Es handelt sich hier um eine Fachrichtung der Medizin, die eine sehr differenzierte Diagnostik betreibt. Dazu gehören zum Beispiel neuropsychologische Untersuchungen, wir betrachten die Familiendynamik nach wissenschaftlichen Kriterien, bei der Leistungsdiagnostik stehen vor allem die Ressourcen des Kindes im Vordergrund, wir machen eine Verhaltensbeobachtung. Wir schauen, was kann ein Kind? Und nicht: Worauf oder worin ist es fixiert. Wir wollen schauen, was kann eine Familie von sich aus, welche Fähigkeiten und Kompetenzen sind vorhanden? Wo kann sie unterstützt werden, wie kann ein Kind gefördert werden, was kann das Jugendamt beitragen? Bei Dr. Winterhoff hingegen gibt es nach meiner Erfahrung Standarddiagnosen, die sehr defizitorientiert sind, beispielsweise Fixierung in der oralen oder analen Stufe oder Fixierung in der narzisstischen Stufe.

 Kinder- und Jugendpsychiater Dietmar Fernholz.

Kinder- und Jugendpsychiater Dietmar Fernholz.

Foto: Privat

Wie verbreitet sind denn solche Diagnosen überhaupt?

Fernholz Außer bei Dr. Winterhoff habe ich so etwas überhaupt noch nicht gesehen. Das ist keine Diagnostik, hinter die sich der Berufsverband der Kinder- und Jugendpsychiater stellen würde.

Was sagen Sie zur Diagnose „frühkindlicher Narzissmus“?

Fernholz  Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ist eine sehr gravierende Störung, die eigentlich nur im Erwachsenenalter diagnostiziert wird. Auch die Begriffe „symbiotische Phase“ und „autistische Phase“, die in den Büchern von Dr. Winterhoff immer wieder verwendet werden, stammen aus den 1960er Jahren. Daraus eine ganze Theorie und sogar eine ganze Gesellschaftsbeschreibung abzuleiten, halte ich für unwissenschaftlich. Und ich sehe dadurch das Bild der Kinder- und Jugendpsychiatrie gefährdet.

Was ist von der „Diagnose“ einer zu starken Bindung beziehungsweise Symbiose zwischen Eltern und Kind zu halten?

Fernholz Die Kinderärztin und Psychoanalytikerin Margret Mahler hat von einer „autistischen Phase“ gesprochen, in der der Säugling nur auf sich und aufs reine Überleben bezogen sei. Dann komme es zu einer „symbiotischen Phase“, das heißt das Kind nehme die Mutter als Teil seiner selbst wahr. So ist das Modell – ob das so stimmt, weiß man nicht. Nach diesem Modell meint das Kind: Die Mutter ist ein Teil von mir – also kann ich diesen Teil steuern. Dieses „Steuern“ taucht ja bei Winterhoff immer wieder auf: Die Eltern sind, wenn diese symbiotische Bindung aufrechterhalten wird, gesteuert von dem Kind, das seine Interessen durchsetzt. Auf diese Weise haben Sie natürlich eine ganz bestimmte Sicht vom Menschen und von Bindung – eine sehr verkürzte Sicht, die nicht zur modernen Auffassung passt.

Michael Winterhoff zeichnet in seinen Büchern ein düsteres Bild einer Gesellschaft, die eine Generation rücksichtsloser Egoisten heranzieht.

 Fernholz Es stimmt nicht, dass wir heutzutage wahnsinnig entwicklungsfixierte Kinder haben. Im Gegenteil, durch die modernere Erziehung haben wir eine Vielzahl von sehr selbstbewussten Kindern. Wir haben Jugendliche, die auf die Straße gehen und sagen: Nein, so könnt ihr mit der Umwelt nicht weitermachen. Das hätte man sich vor 30 Jahren nicht vorstellen können. Ich glaube, wir haben eine differenzierte Jugend, die erheblich mehr Kompetenzen hat, als es diese verkürzte Diagnostik vermuten lässt.

Was macht es mit einem Kind, wenn es als Tyrann, Narzisst oder Monster bezeichnet wird?

Fernholz Wenn ein Kind stark aufwächst, gesunde Grenzen im Wechselspiel mit zunehmenden Freiheiten kennenlernt, dann denkt es sich vermutlich: Der kann mich mal. Es hängt von der Haltung der Eltern ab und wie sie mit diesen Diagnosen und Empfehlungen umgehen. Wenn sie sich darauf einlassen, werden sie eine sehr rigide Haltung dem Kind gegenüber einnehmen und ihm nur ja keine Freiheiten mehr lassen.

Winterhoffs Bücher sind Bestseller, er war mit seinen Thesen immer wieder in Talkshows zu Gast. Wie erklärt man diesen Erfolg? Gibt es einen gesellschaftlichen Wunsch nach dieser strengen, rigiden Haltung?

Fernholz Eine Jugend, die so selbstbewusst auftritt wie die heutige, verunsichert sicher ein Stückweit die ältere Generation. Wenn dann ein Arzt kommt und innerhalb von zehn bis 20 Minuten eine Diagnose und einen plakativen Spruch dazu hat, dann ist das vielleicht manchmal eine einfache, willkommene Lösung. Das hat aus meiner Sicht etwas Guruhaftes.

In welchen Fällen würden Sie Kindern und Jugendlichen Pipamperon verschreiben?

Fernholz Das muss man sehr differenziert betrachten. Es ist eine Krux der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dass sich die Medikation noch immer überwiegend aus der Erwachsenenpsychiatrie ableitet. Was Pipamperon angeht: In einer Klinik haben Sie mehr qualifiziertes Personal als etwa in einem Heim. Dort können Sie ein Mittel wie Pipamperon überwiegend als Notfallmedikament geben. Sie müssen sich aber vorstellen, dass es gerade in Heimen sehr häufig aggressive und potenziell für andere gefährliche junge Patienten gibt, dafür aber oft weniger qualifiziertes Personal, das mit diesen Kindern und Jugendlichen adäquat umgehen kann. Dann kann eine längerfristige Medikation mit einem Mittel wie Pipamperon in niedriger Dosierung sinnvoll sein. Aber es gibt auch modernere medikamentöse Alternativen. Eine längerfristige Medikation muss immer regelmäßig überprüft werden. Grundsätzlich lässt sich sagen: Wenn ich eine verkürzte Diagnostik habe, habe ich auch verkürzte Lösungen, auch was die Medikation betrifft.

Dieses Interview ist zuerst im Bonner General-Anzeiger erschienen. 

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