Einschulung in NRW Diese 10 Dinge laufen an Grundschulen heute falsch

Düsseldorf · Rund 156.000 I-Dötzchen aus NRW werden diese Woche eingeschult - für Kinder wie Eltern ein freudiges Ereignis. Wenn die wüssten! Unsere Autorin, selbst dreifache Mutter, berichtet anonym, was an unseren Grundschulen schief läuft.

 Am ersten Schutag ist die Freude über den Start in die Schulzeit bei Kindern und Eltern groß. (Symbolbild)

Am ersten Schutag ist die Freude über den Start in die Schulzeit bei Kindern und Eltern groß. (Symbolbild)

Foto: Shutterstock/Kzenon

Lehrermangel, Inklusion, steigender Förderbedarf und Schulzusammenlegungen - das sind nur einige der Probleme, mit denen Grundschulen in Nordrhein-Westfalen zu kämpfen haben. Welche Auswirkungen das hat, werden die Eltern vieler gut gelaunter I-Dötzchen schon bald merken, glaubt unsere Autorin: Sie hat selbst drei Kinder durch die Grundschule gebracht und kann erzählen, wie die Realität dort wirklich aussieht. Hier ist ihre Top 10 der unschönen Grundschulerfahrungen:

1. Prügeln, mobben, fertig machen – Normalität schon in der Grundschule

Am ersten Tag zogen sie noch strahlend Hand in Hand von der Turnhalle in ihre Klassen. Nur wenige Tage später eskaliert das Aufstellen auf dem Schulhof. Tim schlägt Esra mit voller Wucht ins Gesicht. Der Handabdruck ist feuerrot auf der Wange des Mädchens abgemalt. Sie hatte ihn zu lange angesehen. Doch das ist nur der Anfang. Beinahe täglich berichten die Kinder von Demütigungen: Lukas lebt wegen seines Gewichts die ganze Grundschulzeit mit der Dauerbeleidigung „fetter Donut“. Hürrem wird auf dem Schulhof die Hose runtergezogen. Alle können ihren nackten Po sehen. Sie ist so beschämt, dass sie nicht einmal der Lehrerin davon erzählt. Schläge und Beschimpfungen sind Normalität - an einer ganz normalen Grundschule hier in unserer Region.
Selbst vor Lehrern machen Respektlosigkeit und Aggressivität nicht Halt. An etwa jeder dritten Grundschule sind laut einer Studie des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) Lehrkräfte in den letzten fünf Jahren von ihren Schülern angegriffen worden. Ein Drittklässler schreckt nicht davor zurück, seiner Klassenlehrerin eine Backpfeife zu verpassen. Ein anderer Junge wirft seine Bank auf die Lehrerin. Sozialpädagogen gehören eigentlich zur Grundausstattung an jeder Schule - Unterstützung gibt es trotzdem nur stundenweise, weil sie die Fachkräfte teilen müssen.

2. Lärm und Konzentrationsprobleme

So viel kostet Eltern der Schulstart
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Foto: DAK/Schläger

Man muss kein Kind mit Förderbedarf haben, um festzustellen, dass Konzentration zum ernsten Problem werden kann. Kaum beginnt im Unterricht eine ruhige Lernphase, geht ein Rangeln um die Lärmschutzkopfhörer los. Was eigentlich zur Sicherheitsausstattung auf einer Baustelle gehört, ist heute in vielen Grundschulen Teil des ganz normalen Inventars im Klassenraum. Ursprünglich gedacht für Kinder mit Konzentrationsproblemen, sind sie auch bei unvorbelasteten Schülern heiß begehrt. Der Lärmpegel in vielen Klassen hat nämlich ohrenbetäubende Ausmaße, selbst bei Klassenarbeiten. Kinder laufen umher, diskutieren über Aufgaben, stupsen Banknachbarn pausenlos am Ellbogen an und hindern sie daran, die Arbeit zu schreiben. Ergebnis beim unbeteiligten Kind: Fünf in Mathe.

3. Schreiben lernen nach Gehör

Aus Vater wird „Fata“, Fahrrad mutiert zu „farat“. Das Erfolgserlebnis für Schreibneulinge, erste Worte nach Gehör zu Papier bringen zu können, ist groß, ebenso jedoch auch der Unmut vieler Eltern darüber, dies erst nach einiger Überlegung entschlüsseln zu können. Ihre Sorge: Was einmal falsch gespeichert ist, lernen die Kinder nur schwer wieder um. Darum wünschen sich viele, es möge trotz der Förderung der Schreibmotivation von Beginn an erlaubt sein, korrigierend einzugreifen. Pädagogen denken eben manchmal anders als verzweifelte Eltern. Darum will NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer noch in diesem Jahr einen Masterplan vorlegen, der Schreiben nach Gehör auf das erste Schuljahr begrenzt, einen verbindlichen Grundwortschatz für die Grundschule vorgibt und Inhalte für die Vermittlung der Lese- und Schreibkompetenz vorgibt. Für die neuen I-Dötzchen ändert sich aber erst mal nichts.

4. Aus zwei Schulen mach eine weit entfernte

Früher stand in jedem größeren Dorf mal eine Schule - heute steht vielerorts allenfalls ein Schulbus. Geburtenrückgänge haben dazu geführt, dass Schulen geschlossen werden mussten. Jede neunte Grundschule hat laut VBE seit 2001 ihren Betrieb eingestellt. Schulzusammenlegungen sorgen in der Regel für erbitterte Kämpfe um den Erhalt des eigenen Hauses. Im Anschluss daran gibt es verbitterte „Verlierer“, deren Kinder den weiteren Schulweg in Kauf nehmen müssen. Ruhe bringt auch das Ringen um ein einheitliches Schulkonzept nicht in den Schulalltag.

5. Projekte - Hauptsache Erster

Projektwochen, bundesweite Mathe- und Lese-Wettbewerbe, Forscherclubs oder doch lieber musikalische Frühförderung? Bei der Entscheidung für eine Grundschule war das noch wichtig. „Die fördern gut“ erzählten sich überzeugte Eltern bei Schnuppertagen auf den Fluren und entschieden sich darum genau für diese Schule. Doch wer den Lernwahnsinn mit den Kindern durchlebt, merkt schnell: Die Zahl an Zusatzprojekten in Grundschulen ist gut gemeint, aber kaum zu bewältigen.

6. Englisch für die Tonne

Seit 2003 lernen Grundschüler Englisch: spielerisch, um ein erstes Gefühl für die Sprache zu bekommen, alltägliche Ausdrücke oder einfache Sätze zu lernen. Doch im Wettstreit um besser und mehr ist der Kenntnisstand der Kinder zum Ende der vierten Klasse von Schule zu Schule sehr unterschiedlich. Manchen ist das Vokabellernen und das Schriftenglisch schon in Fleisch und Blut übergegangen, andere hingegen verstehen gerade leichte Hörspiele. Der Übergang zur weiterführenden Schule wird fremdsprachlich zum Frusterlebnis. Um den Anschluss nicht zu verpassen, brauchte meine Tochter Nachhilfe. Und das, obwohl auf ihrem Abschlusszeugnis eine Zwei stand.

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7. Sprachzertifikate als Grundschulangebot

Manche Grundschulen sind im Buhlen um den guten Ruf dazu übergegangen, freiwillige Zusatzangebote für besonders eifrige Kinder anzubieten. So lassen sich Sprachzertifikate wie das Cambridge-Zertifikat oder das DELF Prim in Französisch erwerben. Andernorts können Grundschüler ein Computerschreibzertifikat machen. Es mag Kinder geben, denen das wirklich Spaß macht. Aber es sei die Frage gestattet, ob das auf normalen Regelgrundschulen in Anbetracht anderer Probleme wirklich die Welt retten wird. Denn während der eine sein Sprachzertifikat macht, scheitert der andere am Füllerführerschein.

8. Zu viele förderbedürftige Kinder für zu wenige Lehrer

Immer mehr Kinder mit Förderbedarf besuchen die Regelschulen. Im Jahr 2017 wurden laut einer Erhebung des Statistischen Landesamtes NRW 42,2 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen unterrichtet. Eltern und Lehrer verschiedener Schulen in der Region nennen aus ihren Klassen zwischen 50 bis 70 Prozent. Überall ist die Inklusion eine große Herausforderung. Hinzu kommt die Unterstützung lernschwacher, sozial oder emotional auffälliger Kinder und die Individualförderung aller Schüler. Der Deutschen Lehrerverband spricht sich darum dafür aus, in allen betroffenen Klassen einen zweiten Lehrer oder eine zweite Lehrerin einzusetzen, weil sonst der Lernfortschritt aller gefährdet sei. Doch mehr Lehrer gibt es nicht. Sie werden händeringend gesucht.

9. Gestern auf der Flucht, morgen Deutsch und Mathe

Nach drei Jahren auf der Flucht ist Safa in Deutschland angekommen und besucht die dritte Klasse einer Grundschule in der Region. Mit ihm tun das fünf weitere Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund. Jedes Kind bringt sein eigenes Trauma mit. Doch sie können davon nicht berichten, denn sie alle müssen die deutsche Sprache erst noch lernen. In Summe mit Individualförderung, Inklusion und anderen Herausforderungen bringt das Schüler und Lehrer an den Rand der Belastbarkeit.

10. Auch Eltern dürfen in die Schule

Ob Klassenpflegschaft, Förderverein, Expertenabende oder Lesepatenschaften – Eltern haben viele Möglichkeiten, das Schulleben ihrer Kinder zu begleiten und mitzugestalten. Doch macht sich epidemieartig gähnende Leere breit, wenn sie gefragt sind. Zum Kennenlernen der neuen Klassenlehrerin und der ersten Besprechung im neuen Schuljahr kamen vier Mütter, zum Klassenfest sogar nur drei. Trotz Job und Terminstress – ist da wirklich nicht mehr drin?

Unsere Autorin ist Redakteurin bei der Rheinischen Post.

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