Mutmaßlicher Serientäter aus Hürth Thallium als Tatwaffe – Staatsanwaltschaft erhebt Anklage

Update | Hürth/Köln · Die Vorwürfe sind ungeheuerlich: Mehrere Frauen aus seinem Umfeld soll ein Krankenpfleger aus Hürth vergiftet haben – mit dem Schwermetall Thallium. Zwei der Opfer starben. Einblicke in die Ermittlungsakte zeigen: Vor allem das Motiv des mutmaßlichen Täters ist für die Ermittler bislang völlig rätselhaft.

Gläschen mit Rattengift Thallium

Gläschen mit Rattengift Thallium

Foto: dpa/Armin Thiemer / dpa

Update, 25.5.: Im Fall des mutmaßlichen Giftmörders von Hürth hat die Staatsanwaltschaft jetzt Anklage gegen den 41-Jährigen erhoben. Das bestätigte ein Sprecher des Kölner Landgerichts am Mittwoch auf Anfrage unserer Redaktion. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann zwei Morde und einen Mordversuch vor und sieht die Merkmale Heimtücke und Grausamkeit erfüllt. Er soll seine Ehefrau, seine neue Lebensgefährtin und deren Großmutter mit dem hochtoxischen Schwermetall Thallium vergiftet haben. Nur die Lebensgefährtin überlebte. Sie war schwanger. Daher ist auch ein versuchter Schwangerschaftsabbruch angeklagt. Die Staatsanwaltschaft hat Sicherungsverwahrung für den Angeklagten beantragt.

Mit rätselhaften Symptomen wird am 12. November 2021 eine schwerkranke Patientin in die Düsseldorfer Uniklinik eingeliefert. Die damals 36-jährige Melanie K. (alle Namen geändert) ist sehr geschwächt, hat große Schmerzen, Herzrasen, Magen- und Darmprobleme, die Haare sind ihr büschelweise ausgefallen. Die Ärzte sorgen sich nicht nur um das Leben der Frau – sie ist in der 15. Woche schwanger. Auch das Ungeborene ist in Lebensgefahr.

Die Mediziner erinnern sich in dieser Zeit an die Patientin Silke P., die eineinhalb Jahre zuvor mit ganz ähnlichen Beschwerden in die Klinik gebracht worden war. Stundenlang hatten die Ärzte damals versucht, das Leben der 35-Jährigen zu retten – am Ende waren ihre Bemühungen vergeblich. Im November 2021 begegnen sie nun dem Ehemann der verstorbenen Patientin wieder: Sebastian S., 41 Jahre alt, ist nun der Lebensgefährte von Melanie K. – und nach dem Eindruck der Ärzte offenbar in größter Sorge um sie und das gemeinsame Kind.  

Aber es gibt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Fällen: Bei beiden Frauen konnten die Ärzte eine Vergiftung mit dem Metall Thallium nachweisen, bei Silke P. erst nach ihrem Tod durch eine Obduktion. Bereits damals war über mehrere Monate ermittelt worden – die Obduktion hatte aber nicht sicher klären können, wie das Gift in den Körper der Frau gelangt war und ob es tatsächlich zu ihrem Tod geführt hatte. 

Die beiden medizinischen Notfälle markieren den Beginn aufwendiger Polizeiermittlungen. Und schon bald haben die Ermittler den Verdacht: Der Krankenpfleger Sebastian S. könnte ein Serientäter sein. Unsere Redaktion hatte Einblick in die Ermittlungsakten. S. ist nicht nur dringend verdächtig, seine Ex-Frau getötet und seine schwangere Lebensgefährtin und das ungeborene Kind ebenfalls vergiftet zu haben. Er könnte auch für den Tod der Großmutter seiner Lebensgefährtin verantwortlich sein.

Im November 2021 meldet sich ein Arzt der Düsseldorfer Uniklinik bei der Polizei und berichtet von den ungewöhnlichen und höchst alarmierenden Parallelen. Nur wenig später erscheint die Mutter von Melanie K. auf einer Wache in Hürth bei Köln: Während ihre Tochter und das ungeborene Enkelkind in der Uniklinik mit dem Tod kämpften, war ihr eingefallen, dass Sebastian S. ihr vom Tod seiner Ehefrau erzählt und dabei auch die ungeklärte Todesursache erwähnt hatte. Sie habe nun die Befürchtung, dass der Freund ihrer Tochter selbst dafür verantwortlich sein könnte – und nun auch ihre Tochter vergiftet habe.

Die Kölner Polizei übernimmt damals den Fall und richtet die Mordkommission „Thallium“ ein. Thallium ist ein Schwermetall, das früher als Rattengift verwendet wurde, seit vielen Jahren aber verboten ist. Weniger als ein Gramm kann schon tödlich sein für einen Menschen. Als Melanie K.s Mutter den Freund ihrer Tochter im Herbst 2021 anzeigt, äußert sie einen weiteren Verdacht: Sebastian S. könnte auch ihre Mutter vergiftet haben. Die Großmutter hatte vor ihrem plötzlichen Tod  im Jahr 2021 unter ähnlichen Symptomen wie die beiden anderen Frauen gelitten, unter anderem an starkem Haarausfall.

Nach allem, was die Ermittler bislang zusammengetragen haben, ist das Motiv des Tatverdächtigen absolut rätselhaft. S. gilt in seinem Umfeld als freundlicher, unauffälliger Mann, ist stets hilfsbereit und träumte immer von einer eigenen Familie. Die Ermittler sind davon überzeugt, dass er seiner Ehefrau im April 2020 die tödliche Thallium-Dosis verabreicht hat. Das Paar wurde vorher als glücklich wahrgenommen, lebte in einem eigenen Haus in Ratingen. Nur wenige Monate nach dem Tod seiner Frau soll S. sich auf einem Online-Portal für Menschen mit Kinderwunsch angemeldet haben. Dort kontaktierte er unter seinem Klarnamen, aber auch mit einem Alias-Namen verschiedene Frauen.

Über diese Seite lernte S. offenbar mindestens zwei Frauen näher kennen, mit denen er sexuelle Verhältnisse einging – eine davon war Melanie K. Während sich aus den regelmäßigen Treffen mit ihr eine feste Beziehung entwickelte, traf S. die andere Frau trotzdem weiter – beide Frauen wurden schließlich schwanger, ohne voneinander zu wissen. Der Freundeskreis und auch die Nachbarschaft wunderten sich, dass der Witwer den Tod seiner Frau so schnell verwunden hatte. Das geht aus Zeugenvernehmungen vor. Aber auch das neue Paar wirkte glücklich und verliebt.

Im April 2021 starb die Großmutter von Melanie K. mit 92 Jahren. Sie hatte ihrer Enkelin immer versprochen, dass sie ihr Haus in Hürth erben würde. Die Ermittler gehen heute davon aus, dass Sebastian S. die Frau tötete, weil er in ihr Haus ziehen wollte, gemeinsam mit deren Enkelin. Ob es tatsächlich das Motiv war, muss sich zeigen. Geldsorgen hatte S. offenbar nicht, das Haus in Ratingen hatte er verkauft und lebte mit Melanie K. in einer großen Wohnung. Die Leiche der Großmutter wird später exhumiert und in der Rechtsmedizin untersucht. Es stellt sich heraus: Auch sie starb an den Folgen einer Thallium-Vergiftung. Bei einer Hausdurchsuchung finden die Ermittler eine Spritze und eine Dose mit einer Substanz darin – es handelt sich um Thallium. Die Beamten finden außerdem heraus, dass sich Sebastian S. schon vor längerer Zeit 25 Gramm Thallium bei einer Fachfirma für Forschungsmaterialien bestellt hat. Er hatte sich das Gift an die Anschrift seines Arbeitgebers in Ratingen schicken lassen. Drei Wochen, bevor seine Ehefrau Silke P. in die Klinik gebracht werden musste und starb. 

Melanie K. und ihre Tochter haben überlebt. Noch ist aber unklar, ob das Kind alles unbeschadet überstanden hat. Die Ärzte hatten es per Kaiserschnitt früher auf die Welt holen müssen. Die junge Frau, die gleichzeitig mit Melanie K. von S. schwanger geworden war, erfuhr durch die Polizei von den schweren Vorwürfen gegen den Vater ihres Kindes. Sie entschied sich daraufhin dafür, das Kind nicht zu bekommen.

Sebastian S. bestreitet die Taten. Er sitzt wegen des dringenden Tatverdachts des zweifachen Mordes, des versuchten Mordes und des versuchten Schwangerschaftsabbruchs in Untersuchungshaft. Das sei alles verrückt, soll er gesagt haben. Er habe seine Frau geliebt und würde auch Melanie K. lieben. Inzwischen ist jedoch noch ein weiterer Todesfall in den Blick der Ermittler gerückt: Anfang 2017 starb die Großmutter von Silke P. Sebastian S. hatte vorher Kontakt zu der 93 Jahre alten Dame. Auch ihre Leiche wurde exhumiert. Ob auch sie vergiftet wurde, ist noch unklar.

Die Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft Köln dürfte in Kürze beim Kölner Landgericht eingereicht werden. Das Gericht hat dann zu entscheiden, ob die Anklageschrift zur Hauptverhandlung zugelassen wird.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort