Nesthocker Im „Hotel Mama“ mit Anfang 20

Düsseldorf/St. Augustin · Wann endet die Jugend und wann beginnt das Erwachsenwerden? Viele würden sagen: Mit dem Auszug aus dem Elternhaus – den eigenen Haushalt führen, Wäsche waschen, Rechnungen bezahlen. Doch in Deutschland wohnen immer mehr junge Erwachsene noch zu Hause.

 Lennard Bär in seinem Zimmer. Am liebsten arbeitet er auf dem Bett.

Lennard Bär in seinem Zimmer. Am liebsten arbeitet er auf dem Bett.

Foto: Anne Orthen (ort)

Daten des Statistischen Bundesamtes zufolge war es 2016 mit 25 Jahren noch gut jeder Dritte. Vor 45 Jahren waren es nur 20 Prozent. Das „Hotel Mama“ ist offenbar wieder im Kommen.

Lennard Bär, 21 Jahre alt, studiert Sportjournalismus in Köln. Nach der Uni fährt er jeden Tag ins 40 Kilometer entfernte St. Augustin, wo er mit seinen Eltern wohnt. Allerdings nicht im Kinderzimmer, sondern auf einer eigenen Etage. Zwei Zimmer, Küche, Bad: Für viele Studenten ist das Luxus. Zumal der 21-Jährige dafür keinen Cent zahlt: „Ab und zu gehe ich einkaufen oder mähe den Rasen, aber eine Miete zahle ich nicht.“ Dessen ist sich der 21-Jährige bewusst: „Ich genieße das Leben zu Hause in vollen Zügen.“ Nach dem Abitur vor zwei Jahren und dem Studienbeginn in Köln habe sich der mögliche Auszug quasi von selbst erledigt: Selbst einfache Wohnungen seien zu teuer gewesen. Im Auslandssemester in Madrid habe er zudem in einer WG gelebt und festgestellt: „Das ist nichts für mich.“ Zu wenig Raum zum Zurückziehen, zu viel Verantwortung, etwa für das eigene Abendessen. Zuhause ist das anders: „Die Wohnung ist sauber, der Kühlschrank ist voll und Mama hat etwas gekocht.“ Das sei schlicht komfortabel und entspannt.

„Das Verbleiben im Nest kann ein Signal gelungener Bindung sein“, sagt Gerhard Vogel von der Familienberatungsstelle der Caritas in Düsseldorf. „Für manche Familien ist es aber auch eine Zerreißprobe – nämlich dann, wenn die Entwicklung des jungen Erwachsenen stagniert.“ Das könne sich etwa darin ausdrücken, dass ein erwachsenes Kind das Elternhaus nicht verlassen will oder nach einem Auszug wieder zurückkehrt. Für Aufsehen sorgte erst kürzlich ein Fall aus den USA: Eltern verklagten ihren 30-jährigen Sohn, weil dieser sich weigerte, auszuziehen. Auch in Deutschland kann das passieren: So gab im Juni 2015 ein Brandenburger Familiengericht einer 84-Jährigen recht, die ihren 50-jährigen Sohn auf Auszug verklagt hatte.

So weit kommt es aber selten. Auch Lennard Bär hat vor, nach dem Studium auszuziehen. Noch wohnt er aber gern daheim, Nachteile sieht er kaum. „Manchmal werde ich drauf angesprochen, dass das Zimmer nicht aufgeräumt ist oder die Musik zu laut – aber ansonsten ist es sehr locker.“ Auch die Freundin und viele Freunde wohnten bei den Eltern. Viele kennt Bär noch aus der Schule, mit einigen spielt er seit Jahren Fußball. Auch das ist für ihn ein Vorteil am Daheimbleiben: „Drei Mal die Woche Training und am Wochenende ein Spiel wäre von Köln kaum machbar.“ Dazu kommt  das gute Verhältnis zu den Eltern, Bär zufolge sogar der „wichtigste Grund“ dafür, dass er noch zu Hause wohnt.

 Gemeinsam am Küchentisch: Lennard wohnt noch bei seinen Eltern Claudia und German Bär.

Gemeinsam am Küchentisch: Lennard wohnt noch bei seinen Eltern Claudia und German Bär.

Foto: Anne Orthen (ort)

Wenn diese Harmonie verloren geht und Spannungen auftreten, helfen Erziehungsberater wie Gerhard Vogel. Besonders oft kommen Eltern, die sich Sorgen um ihre noch zu Hause lebenden Kinder machen. Viele Gespräche zeigten: „Oft ist es ein Übergangsproblem: Die jungen Leute schaffen den Sprung in die Eigenständigkeit nicht.“ Dabei sieht Vogel eine deutliche Veränderung in den vergangenen 15 bis 20 Jahren. „Die Adoleszenz wird verlängert, erwachsen werden viele heute erst mit Mitte bis Ende 20.“ Die Phase der Selbstfindung dauere länger, der Druck zur Selbstoptimierung sei viel höher. „Bei manchen führt das zu Selbstzweifeln, Depressionen oder sogar Suizidgedanken.“ Andere fänden sich in neuen Situationen nicht zurecht und entwickelten Rückzugstendenzen.

Zudem sei es gerade für Berufs- oder Studienanfänger in Ballungsräumen auch finanziell schwierig, auf eigenen Beinen zu stehen. Doch der Erziehungsberater sieht auch positive Seiten: „Früher war das Ideal, dass die Kinder mit 18 ‚flügge’ werden und ausziehen“, sagt Vogel, „heute hat es für viele junge Erwachsene Vorteile, länger zu Hause wohnen zu können.“ Diese seien nicht nur materieller Art, „dazu gehört auch der stärkere familiäre Rückhalt, der sich etwa in Gesprächen und Ratschlägen ausdrückt.“

Das schätzt auch Lennard Bär an seinem Elternhaus. Mutter Claudia Bär zufolge trägt dazu auch die Tatsache bei, dass die Familie in einem Haus mit getrennten Etagen und viel Platz wohnt: „So hat jeder seine Rückzugsmöglichkeit, das entspannt das Zusammenleben.“ Auch der ältere Sohn Nikolas, 23 Jahre alt, habe bis vor Kurzem noch im Elternhaus gewohnt. Dennoch habe jeder sein eigenes Leben, sagt die 50-Jährige, die mit ihrem Mann ein Dentallabor betreibt. „Für gemeinsame Rituale wie jeden Tag um 18 Uhr Abendbrot sind wir alle zu viel unterwegs.“

Claudia Bär zog mit 18 von zu Hause aus, ihr Mann German sogar mit 17. „Mein Mann hat eine Lehre in einer anderen Stadt gemacht, meine Familie wohnte zu viert in einer kleinen Wohnung.“ Für Bär hängt der Auszug der Kinder deshalb auch immer von der jeweiligen Raum- und Familienstruktur zusammen. Sohn Lennard hat bislang keine konkreten Pläne, das Elternhaus zu verlassen, sagt aber: „Nach dem Studium, also in zwei Jahren, sollte es schon so weit sein.“ Claudia Bär will ihrem Sohn die Zeit geben, die er braucht – und scherzt: „Wenn er mit 30 immer noch hier ist, mache ich mir Sorgen.“

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