Mönchengladbach "Goodbye, Hauptquartier!"

Mönchengladbach · Er traf einen Ur-Ur-Ur-Enkel Shakespeares, galt nach dem IRA-Bombenattentat 1987 zeitweise als Hauptverdächtiger und ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Kind des HQ: RP-Redakteur Helmut Michelis (58), zufällig so alt wie das Hauptquartier im Rheindahlener Wald, erinnert sich mit Wehmut an zahlreiche spannende und bewegende Momente im niederrheinischen "Klein-Britannien".

 Der britische Premierminister Sir Winston Churchill war einer der zahlreichen Prominenten, die das Rheindahlener Hauptquartier und die drei umliegenden Militärflugplätze der Royal Air Force besuchten. Hier wird er 1956 im Fliegerhorst Wildenrath empfangen.

Der britische Premierminister Sir Winston Churchill war einer der zahlreichen Prominenten, die das Rheindahlener Hauptquartier und die drei umliegenden Militärflugplätze der Royal Air Force besuchten. Hier wird er 1956 im Fliegerhorst Wildenrath empfangen.

Foto: Stadtarchiv

Er traf einen Ur-Ur-Ur-Enkel Shakespeares, galt nach dem IRA-Bombenattentat 1987 zeitweise als Hauptverdächtiger und ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Kind des HQ: RP-Redakteur Helmut Michelis (58), zufällig so alt wie das Hauptquartier im Rheindahlener Wald, erinnert sich mit Wehmut an zahlreiche spannende und bewegende Momente im niederrheinischen "Klein-Britannien".

 Verteidigungsminister Helmut Schmidt (SPD), der spätere Bundeskanzler, besuchte 1970 das JHQ. Ein schwarzer Tag war das Attentat 1987: Die Autobombe, deren Explosion noch in der Gladbacher City gut zu hören war, riss in den Parkplatz einen riesigen Krater.

Verteidigungsminister Helmut Schmidt (SPD), der spätere Bundeskanzler, besuchte 1970 das JHQ. Ein schwarzer Tag war das Attentat 1987: Die Autobombe, deren Explosion noch in der Gladbacher City gut zu hören war, riss in den Parkplatz einen riesigen Krater.

Foto: Stadtarchiv

Ich bin zwar "originally made in Mönchengladbach", aber irgendwie auch ein Produkt der britischen Streitkräfte. Denn meine Eltern haben sich unmittelbar nach dem Krieg in der Telefonvermittlung der Ayrshire Barracks an der Aachener Straße kennen- und liebengelernt. Sie verdienten sich dort in jenen harten Zeiten mit Nachtdiensten Geld, um ihr Studium zu finanzieren. Ohne die Briten, God save the Queen, hätte es mich also mutmaßlich gar nicht gegeben.

 Verteidigungsminister Helmut Schmidt (SPD), der spätere Bundeskanzler, besuchte 1970 das JHQ. Ein schwarzer Tag war das Attentat 1987: Die Autobombe, deren Explosion noch in der Gladbacher City gut zu hören war, riss in den Parkplatz einen riesigen Krater.

Verteidigungsminister Helmut Schmidt (SPD), der spätere Bundeskanzler, besuchte 1970 das JHQ. Ein schwarzer Tag war das Attentat 1987: Die Autobombe, deren Explosion noch in der Gladbacher City gut zu hören war, riss in den Parkplatz einen riesigen Krater.

Foto: Stadtarchiv

Diese allererste Verbindung hatte für mich zahllose Fortsetzungen — mit einem Tiefpunkt als Hauptverdächtiger beim Bombenattentat 1987 und mit vielen beeindruckenden Erlebnissen von Besuchen der königlichen Familie über eine Einladung auf die Falkland-Inseln bis hin zu einem magenumstülpenden Tiefflug in einem Tornado-Jet.

 Diese britischen Luftwaffensoldatinnen , die in den 90er Jahren beim "Internationalen Mönchengladbacher Militärwettkampf" an den Start gingen, hatten sichtlich ihren Spaß. 2007 wird beim Empfang zum Geburtstag der Königin feierlich der "Union Jack" niedergeholt.

Diese britischen Luftwaffensoldatinnen , die in den 90er Jahren beim "Internationalen Mönchengladbacher Militärwettkampf" an den Start gingen, hatten sichtlich ihren Spaß. 2007 wird beim Empfang zum Geburtstag der Königin feierlich der "Union Jack" niedergeholt.

Foto: JHQ

Die Briten wurden für uns schnell zu Mitbürgern, auch wenn die Feindschaft im Zweiten Weltkrieg nicht bei allen vergessen war. So brüstete sich mir gegenüber einmal ein offenbar zwangsrekrutierter Gladbacher Übersetzer damit, er habe britischen Offizieren Deutsch mit starkem sächsischen Akzent beigebracht, so dass sie überall ausgelacht worden seien. Das sei seine persönliche Rache an der ungeliebten Besatzungsmacht gewesen.

Es gab zudem Berichte über Handwerker, die 1954 bei einigen der 880 Wohnhäuser heimlich die Kamine von innen zugemauert haben sollen. Ob auch das massenweise Platzen von Wasserrohren in diesen Häusern auf Sabotage zurückzuführen war, blieb ungeklärt.

Im HQ waren bis zu 17 andere Nationen vertreten, doch für uns Gladbacher war es britisch geprägt. Die Briten hatten den Ortsteil 1952 gegründet und 1954 (mein Geburtsjahrgang) bezogen. In nur zwei Jahren waren im Wald zwischen Hardt und Rheindahlen für 166 Millionen Mark mehr als 2000 Gebäude entstanden, dazu Sportanlagen und ein Straßennetz von stattlichen 36 Kilometern Länge.

Eine der zahlreichen Anekdoten, die sich um diese Anfangsjahre ranken, berichtete mir 2004 Generalleutnant Sir Richard Dannatt: Rein zufällig sei 1953 der Direktor des Mineralöl-Konzerns BP durch den Hardter Wald gefahren, habe die imposante Großbaustelle gesehen, angehalten und kurz mit dem "Bauherrn" Oberst Harry Grattan gesprochen. Sofort sei dann ein Grundstücks-Kaufvertrag für eine Tankstelle samt Autowerkstatt unterzeichnet worden. "Diese frühen Pioniere waren nicht gefangen von der ständig präsenten Bürokratie, die heute alles dominiert", meinte der General.

Jeweils Hunderttausende Besucher, natürlich auch meine Klassenkameraden und mich, lockten die alljährlichen Flugtage der Royal Air Force Germany in Wildenrath mit der legendären Kunstflugstaffel "Red Arrows" an. Auch der alltägliche Fluglärm war britisch: Als Journalist besuchte ich einmal eine Sitzung in Hückelhoven-Schaufenberg. Sie musste immer wieder für Minuten wegen lautstark landender "Harrier"-Senkrechtstarter unterbrochen werden.

Wer weiß noch, dass die Venloer Heide bei Kaldenkirchen, heute total zugewachsen, Übungs- und Sammelraum der britischen Verstärkungstruppen gewesen ist? Rheindahlen, so wurde gemunkelt, war ein Primärziel sowjetischer Atomraketen — nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass im Kalten Krieg die Joint Headquarters die Schaltzentrale für die Verteidigung West- und Nordeuropas gewesen sind. Der Stab der britischen Rheinarmee war hier ebenso stationiert wie die Führung der Royal Air Force Germany, die 2. Alliierte Taktische Luftflotte und die Heeresgruppe Nord der Nato. Insgesamt wurden mehrere Hunderttausend Soldaten von Rheindahlen aus befehligt — Gladbach war viele Jahre die bedeutendste Garnisonsstadt Deutschlands.

Auch nach dem Ende des Kalten Krieges verlor das JHQ seine Bedeutung nicht. Das Allied Rapid Reaction Corps (ARRC) steuerte unter anderem die Friedenseinsätze in Bosnien und im Kosovo. General Mike Jackson, der von 1997 bis 1999 Kommandierender General in Rheindahlen war, soll sogar einen dritten Weltkrieg verhindert haben. Er missachtete jedenfalls den Befehl des Nato-Oberkommandos, gewaltsam gegen die russischen Truppen vorzugehen, die im Kosovo-Konflikt als Verbündete Serbiens ohne Absprache den Flughafen der kosovarischen Hauptstadt Pristina besetzt hatten.

Gladbach verdankt auch seinen Flughafen dem britischen Militär. Mit diesem Forschungsergebnis hatte 2005 Generalmajor a.D. Hans Hoster verblüfft, als er sein Buch über das HQ vorstellte. 1955 habe mit dem Manöver "Carte blanche" die größte Luftwaffenübung nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden, berichtete Hoster. Dafür hätten Pioniere in nur fünf Tagen den heutigen Flugplatz an der Niersbrücke eingerichtet. Anschließend schenkten ihn die Briten der Stadt.

Die Architektenschaft Mönchengladbach-Rheydt führt ihre Gründung ebenfalls auf das JHQ zurück. Einzelne Architekten, die sich um Aufträge in Zusammenhang mit dem größten Bauprojekt in der Stadtgeschichte beworben hatten, wurden mit Hinweis auf die Dimension des Projekts abgelehnt. Dies könne nur eine Gruppe bewältigen. Daraufhin schlossen sich Gladbacher und Rheydter Architekten zusammen, um künftig bei Großaufträgen mehr Gewicht zu haben.

Für uns Jugendliche gehörten die Briten immer dazu: Als Schüler des Stiftischen Humanistischen Gymnasiums war ich unter anderem Austauschschüler zur Kent-School in Waldniel, die — heute eine Ruine — auch innen damals aussah wie aus einem "Harry Potter"-Film. Ich habe über diese uns unbekannte Ganztagsschule mit starkem sportlichen Akzent und sehr experimentierfreudigem Unterricht gestaunt. Irritierend fand ich allerdings, dass meine britischen Mitschüler unter der Bank heimlich Comic-Heftchen lasen, in denen tapfere Tommys reihenweise dümmliche deutsche Soldaten niedermähten.

Mönchengladbach dürfte die einzige nicht-englischsprachige Großstadt sein, die zahlreiche englische Straßennamen im Stadtplan führt. Alle "Royals" waren zu Gast, nur die Königin selbst nicht. Ihr Geburtstag wurde indes in Rheindahlen alljährlich stilvoll mit der deutschen Lokalprominenz gefeiert. Britische Tradition vom Feinsten war auch der in England seit 1606 begangene Guy-Fawkes-Day (Fawkes war ein erfolgloser Verschwörer) samt Scheiterhaufen und Feuerwerk.

1975 schrieb ich erstmals über diese wohl größte britische Militäranlage außerhalb des Königreichs. Trotz des steten Wechsels der Soldaten, der langfristige Kontakte erschwerte, existierten etliche vorbildhafte deutsch-britische Verbindungen: der Anglo-German Ladies Club, der Deutsch-Britische Club, der Verein der Tontaubenschützen, der Saddle-Club der Reitsportfreunde und viele mehr. Dazu zählen auch die großen Traditionsveranstaltungen Nato-Musikfest und Internationaler Mönchengladbacher Militärwettkampf.

Wir Bundeswehrreservisten hatten außerdem eine Patenschaft mit der 213. Transportkompanie, britischen Reservesoldaten, die in Mönchengladbach und Umgebung heimisch geworden waren. Daher weiß ich auch, dass sich unter dem Pflaster beim "Palace St. George" an der Aachener Straße, einst britisches Kasernengelände, ein mehrstöckiger großer Wassertank befindet. In den wurde ich nämlich einmal mit meinen Kameraden eingesperrt. Die Briten liebten gruppendynamische Übungen, und es galt, in dem leeren Tank ohne jedes Licht so schnell wie möglich eine versteckte Kiste zu finden und herauszuholen.

Es gab leider auch traurige Ereignisse wie den Todesfall der kleinen Isobel. Das britische Militärgericht in Rheindahlen, das mit Perücken, Roben und Schärpen noch aus dem 18.Jahrhundert zu stammen schien, musste das entsetzliche Unglück während des Volksfestes "JHQ International Show" am 8. Juni 2003 aufklären.

Was mag das Kind, durch einen plötzlich auftretenden Orkan mit Windhose von einem gerissenen und um sich peitschenden Ballonseil gefesselt in die Höhe gezogen, auf seinem 70-Kilometer-Höllenflug nach Hamminkeln erlitten haben? Was hat die Mutter gefühlt, die zusehen musste, wie der gelbe Ballon mit der Fünfjährigen in den schwarzen Wolken verschwand? Was empfanden die hilflosen Soldaten des Ballon-Teams, die in den schrecklichen Sekundenbruchteilen nicht mehr eingreifen konnten? Gemeinsam mit den Zuhörern habe ich aufgeatmet, als die Anklage gegen die Soldaten wegen fahrlässiger Tötung fallengelassen wurde.

Ich habe in den 80er Jahren über die blutigen Attentate der irischen Terrororganisation IRA gegen die Briten am Niederrhein berichten müssen. Beim Bombenanschlag vom 23. März 1987 in Rheindahlen, bei dem mehr als 30 Menschen, darunter General Hoster, teils schwer verletzt wurden, war ich absurderweise zunächst der Hauptverdächtige. Der Grund: Ich hatte in der Offiziermesse, die in die Luft flog, kurz vorher nach dem Weg zu einer anderen Feier im HQ gefragt.

Mein Vater, damals Leiter der Staatsanwaltschaft und den selben Vornamen wie ich tragend, musste zu seiner Verwunderung im improvisierten Ermittlungsstab des Bundeskriminalamts in einer Turnhalle an der Wand in großen Lettern lesen, ein gewisser Helmut Michelis sei dringend tatverdächtig.

Jahre später kam es zum Prozess gegen die beiden irischen Terroristen, die den Anschlag verübt hatten. Ich war als Zeuge geladen, konnte aber nichts Erhellendes beisteuern. Den zerfetzten Frack und das blutige Smokinghemd von Hans Hoster habe ich später mit ihm dem "Haus der Geschichte der Bundesrepublik" in Bonn übergeben. Zufällig habe ich diese beiden Kleidungsstücke kürzlich in einer Vitrine des Bundeswehrmuseums in Dresden zum Thema Terrorismus wiedergesehen.

Erfreulicher sind da schon die mutmaßlich Hunderte deutsch-britischer Ehen, die seit 1954 geschlossen worden sind. Wie eng die Beziehungen waren, machte Ende 2010 Sir Richard Shirreff, der Kommandeur des ARRC, bei dessen Abzug aus Rheindahlen deutlich: Die Hälfte seiner Militärdienstzeit habe er in Deutschland verbracht, sein Sohn sei hier zur Welt gekommen, sagte Shirreff in einer bewegenden Rede. "Wir fühlen uns hier wie zu Hause und haben viele enge und dauerhafte Freundschaften geschlossen. Wir werden das sehr vermissen."

In Großbritannien war "Rheindahlen" ein fester Begriff und ein Urlauber aus Mönchengladbach deshalb gleich in freundliche Gespräche verwickelt. Denn jeder ranghohe Offizier und viele Tausende Soldaten der British Forces waren im Laufe ihrer Dienstzeit irgendwann einmal in Rheindahlen stationiert gewesen. Sogar einen Ur-Ur-Ur-Enkel des Dichters Shakespeare, einen Hauptmann, habe ich kennengelernt.

Auch hohe deutsche Offiziere leisteten im HQ Dienst, wie Generalmajor Carsten Jacobson, jetzt Kommandeur der 1. Panzerdivision der Bundeswehr in Hannover. Seine Frau Sally Jane ist übrigens "passenderweise" Britin.

Mönchengladbach verliert jetzt sein langjähriges internationales Flair. Die Besatzer von damals verabschieden wir heute als Freunde — erfreulicher kann Geschichte bei aller Wehmut doch eigentlich kaum verlaufen.

(RP/rl)
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