Psychologe Gerd Höhner zu Tat in Freudenberg „Sie werden vermutlich nie mehr zur normalen Tagesordnung übergehen können“
Interview | Düsseldorf · Gerd Höhner ist der Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW und hat einige Erfahrung mit Kindern als Straftäter. Er erklärt, wie Kinder zu Taten wie der in Freudenberg fähig sein können und warum er das Herabsetzen der Strafmündigkeit für sinnlos hält.

Trauer und Entsetzen in Freudenberg
Nach dem Gewaltverbrechen an der zwölfjährigen Luise aus Freudenberg ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft zu den Hintergründen des Falls. Bei einer Pressekonferenz am Dienstag wurde bekannt, dass es sich bei den mutmaßlichen Täterinnen um zwei zwölf und 13 Jahre alte Mädchen aus dem Bekanntenkreis der Getöteten handeln soll. Gerd Höhner ist Psychologe, Psychotherapeut und Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW (PTK NRW) und gibt Einblicke in die Psyche von Kindern, die zu Straftätern geworden sind.
Herr Höhner, die Tat in Freudenberg schockiert gerade ganz Deutschland. Die mutmaßlichen Täterinnen sind zwölf und 13 Jahre alt. Wie kann es passieren, dass Kinder zu einer solchen Tat fähig sind?
Gerd Höhner Im Laufe der menschlichen Entwicklung lernen wir alle bestimmte Verhaltensweisen als nicht akzeptiert, verboten oder unerwünscht kennen. Dadurch lernen wir, diese Verhaltensweisen weniger oder gar nicht mehr an den Tag zu legen. Ein Beispiel dafür ist der Satz zu Kindern: Du sollst nicht lügen! Die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Verhalten nicht gezeigt wird, ist also abhängig von diesen gelernten Normen. Es gibt keine natürlich begründete oder biologische Grenze. Dass es keine natürliche Hemmung der Tötung von Artgenossen beim Menschen gibt, das beweist die Menschheit seit Anbeginn. Die Wahrscheinlichkeit, dass man einen anderen Menschen schwer schädigt oder tötet, nimmt mit einer gelungenen Entwicklung ab. Diese Entwicklung kann aber auch misslingen. Gerade bei solchen Einzelfällen wie hier muss man aber auch immer dazu sagen: Es kann keine Verallgemeinerungen und allgemeinen Erklärungsmuster geben. Diese Tat ist in seiner Ausprägung ein absoluter Einzelfall, und es scheint, als könne man hier nicht von einer reinen Affekttat sprechen.
Was bedeutet das?
Höhner Ein Beispiel dafür wäre etwa ein Kind, dass aus welchen Gründen auch immer eine unbändige Eifersucht auf die große Schwester entwickelt hat und dann aggressiv auf ältere Mädchen reagiert. Hier, bei dem Fall in Freudenberg, scheint es aber kein reiner Affekt gewesen zu sein. Dagegen sprechen der Fundort und die bisher bekannten Hintergründe. Im Rahmen einer sorgfältigen und, so paradox es klingen mag, auch liebevollen Betreuung der beiden Mädchen, könnte man genauer verstehen, was in den Köpfen der beiden vorgegangen sein mag. Denn wenn ein so junger Mensch so etwas tut, dann geht es ihm richtig schlecht.
In der Pressekonferenz am Dienstag wurde, aus Gründen des Jugendschutzes, nur sehr wenig über die Tat an sich bekannt gegeben. Es hieß aber unter anderem, gerade die Frage nach dem Motiv werde man nicht beantworten, weil die Motive von Kindern für Erwachsene oft nicht nachvollziehbar seien. Was kann bei Kindern solche großen Emotionen auslösen?
Höhner Ich würde der Aussage widersprechen, dass Erwachsene diese Motive nicht nachvollziehen können. Es stellt sich eher die Frage, wie man mit Kindern in eine Kommunikation kommt. Denn die grundlegenden Emotionen, also etwa Wut oder Eifersucht, können Erwachsene natürlich sehr wohl verstehen. Vielleicht kann der Erwachsene sie aber in ihrer Bedeutung nicht bewerten. Im vorherigen Beispiel kommt es einem Erwachsenen möglicherweise unnötig oder übertrieben vor, wenn ein Kind aus Eifersucht gegenüber der Schwester andere Kinder schlägt. Die Emotion an sich kennen aber auch Erwachsene. Man darf auch nicht vergessen, dass viele Motive gar nicht bewusst sind. Nur weil Kinder oder auch Erwachsene ihre Motive nicht verbalisieren können, bedeutet das nicht, dass unbewusste Motive nicht genauso treibend sein können.
Was mich in dem Fall in Freudenberg aber viel mehr beschäftigen würde, wäre, was in der Kommunikation zwischen den beiden mutmaßlichen Täterinnen passiert ist. Es scheint keine reine Affekttat gewesen zu sein, auch wenn sich Affekt und ein gewisser zeitlicher Vorlauf nicht ausschließen müssen. Zumal Zwölfjährige in der Regel keine Messer bei sich tragen. Es scheint zumindest eine Idee hinter der Tat gestanden zu haben.
Gerade in der beginnenden Pubertät erleben viele Kinder und Jugendliche große Stimmungsschwankungen und Emotionen. Inwiefern könnte das eine Rolle gespielt haben?
Höhner Das kann natürlich alles eine Rolle spielen. Wir befinden uns da aber im Bereich der Spekulation. Genauso könnte man nach den Einflüssen von sogenannten sozialen Medien fragen. Es ist lernpsychologisch sehr wahrscheinlich, dass Kinder, die bestimmten Handlungsweisen visuell öfter ausgesetzt sind, diese eher übernehmen. Das spielt in der bisherigen Diskussion aber noch keine Rolle, weil man eben zu wenig über die Hintergründe der Tat weiß.
Laut Kriminalstatistik steigt die Zahl der Tötungsdelikte von Kindern. Woran könnte das ihrer Meinung nach liegen?
Höhner Die Betrachtung von Kriminalstatistiken ist höchst schwierig. An der Auswertung von bekannt gewordenen Fällen, zum Beispiel Diebstahlsdelikten, kann man nur deshalb Tendenzen ablesen, weil es massenstatistische Phänomene sind. Bei Tötungsdelikten von Kindern sprechen wir aber von einer äußerst geringen Zahl. Man muss also sehr vorsichtig sein, daraus eine statistisch signifikante Steigerung ablesen zu wollen. Die Statistik ist da in der Regel einfach nicht aussagekräftig. Zumal Taten von Kindern, abgesehen von Tötungsdelikten natürlich, auch einfach sehr oft nicht angezeigt werden.
Die Statistiken legen nah, dass besonders die Zahlen der kriminellen Straftaten von Mädchen angestiegen ist. Was könnten die Gründe dafür sein?
Höhner Auch dem kann ich mich nicht unbedingt anschließen. Die geschlechterspezifischen Aspekte einer Kriminalstatistik, egal welchen Alters, zeigen immer an, dass männliche Täter deutlich überrepräsentiert sind. Generell kann man sagen – ausgenommen bei der organisierten Kriminalität –, je höher die Gewalt bei Straftaten ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Täter Männer sind. Die Aussage, dass Mädchen häufiger straffällig werden als früher, ist meiner Meinung nach methodisch nicht zu rechtfertigen. Da müsste man zunächst einmal die Datenbasis der Statistik über die Jahre hin überprüfen. Wir müssen auch aufpassen, uns da von solchen extremen Einzelfällen wie in Freudenberg nicht blenden zu lassen.
Die mutmaßlichen Täterinnen sind jetzt in der Obhut des Jugendamtes. Was passiert in solchen Fällen in der Regel? Wie werden die Kinder betreut?
Höhner Ich kann natürlich nichts über den konkreten Fall sagen, aber in der Regel sind solche Kinder von ihrem Erleben äußerst schwer belastet. Ein Suizidrisiko ist da eigentlich immer gegeben. Man kann nicht annehmen, dass die beiden Mädchen nach der Tat irgendwie kühl wären und zur Tagesordnung übergingen. Sie brauchen mit Sicherheit eine erhebliche psychische Entlastung. Das kann eigentlich nur in einer entsprechenden Einrichtung mit persönlicher Betreuung geschehen. Diese Betreuung muss zum einen präsent sein – man ist für das Kind da – zum anderen aber auch fachlich kompetent, um mit den Mädchen überhaupt eine Kommunikation aufzubauen. Man wird sie aber auf jeden Fall voneinander trennen, alleine um die Dynamik zwischen ihnen zu unterbinden. Diese katastrophale Tat muss jetzt in eine einigermaßen geordnete Kommunikation überführt werden.
Auch um aus Ermittlungsgründen herauszufinden, was passiert ist?
Höhner Natürlich. Wobei man auch hier professionell trennen muss zwischen der psychologischen Betreuung und der Ermittlung. Der Kinder- und Jugendpsychotherapeut ist kein Kriminalbeamter! Und ich würde auch darauf bestehen, dass ein solcher Kontakt der weiterhin bestehenden Schweigepflicht unterliegt. Es ist nicht alles erlaubt mitzuteilen, was in solchen Gesprächen gesagt wird. Das hört sich schlimm an, ist aber wichtig. Die mutmaßlichen Täterinnen dürfen trotz allem nicht unmenschlich behandelt werden. Sie werden aufgrund ihres Alters nicht bestraft werden, sie werden sich aber mit Sicherheit für lange Zeit in einer Betreuung befinden, die einem Freiheitsentzug nicht unähnlich ist. Sie werden vermutlich nie mehr zur normalen Tagesordnung übergehen können.
Sie sprechen es an, es wird auch viel über das Alter der Strafmündigkeit gesprochen. Aktuell sind Kinder unter 14 Jahren nicht für Straftaten zu belangen. Ist das ihrer Ansicht nach noch zeitgemäß?
Höhner Die Rechtsnorm der Strafmündigkeit ab 14 Jahren ist in Deutschland recht alt. Das hat einen guten Grund: Das deutsche Strafrecht setzt Schuld für Strafe voraus. Das ist zum Beispiel im englischen oder amerikanischen Rechtssystem anders, aber in Deutschland muss ein Angeklagter schuldfähig sein, um für schuldig erklärt und bestraft werden zu können. Es muss also eine eigene, aktive und bewusste oder auch absichtliche Handlung vorliegen. Man hat damals festgelegt, dass das bei Kindern in der Regel nicht der Fall sein kann. Dafür spricht vieles. Die Strafmündigkeit ist nämlich nicht nur eine Wissensnorm – also ob das Kind weiß, dass etwas nicht in Ordnung ist –, sondern beinhaltet auch eine moralisch-ethische Reife. Das Kind muss also nicht nur wissen, dass es etwas nicht tun darf, sondern auch intellektuell in der Lage sein, eine äußere Norm für sich selbst zu übernehmen. Es muss verstehen, warum es etwas nicht tun darf.
Was ist ihre Einschätzung, würden Sie dafür plädieren, das Alter der Strafmündigkeit zu senken?
Höhner Das ist ein Appell, der mehr mit den Fordernden zu tun hat, als mit der Forderung selbst. Man will damit die eigene Hilflosigkeit überwinden und fordert etwas, ohne es länger zu bedenken. Und abgesehen davon, dass ich absolut dagegen bin, glaube ich auch nicht, dass es etwas nutzen würde. Fangen wir dann an, Kinderstrafanstalten zu errichten? Meiner Meinung nach ist es unverantwortlich von Politikern, so etwas direkt zu fordern.
Losgelöst vom aktuellen Fall, welche psychischen Erkrankungen gibt es, die selbst so junge Menschen zu Straftaten treiben?
Höhner Ich halte die Herstellung eines kausalen Zusammenhangs zwischen psychischen Erkrankungen bei Kindern und Straftaten für äußerst fraglich. Es gibt psychische Krankheiten, die die Schuldfähigkeit betreffen und damit die Wahrscheinlichkeit einer Straftat erhöhen. Aber dass ein Kind psychisch krank ist und alleine deshalb straffällig wird, halte ich für nicht begründbar. Das mag bei Erwachsenen so sein, etwa bei durch paranoiden Angstzuständen ausgelöstem Verfolgungswahn oder ähnlichem, aber solche Erkrankungen gibt es in dem Alter nicht.