Angebote für Flüchtlinge in NRW Die Krise als Konjunkturprogramm

Neuss · Die Flüchtlingskrise ist eine gewaltige Herausforderung - und ein staatlich finanziertes Konjunkturprogramm zugleich. Viele Unternehmen versuchen, daraus das Beste zu machen.

 Ein Nothaus der Firma Coenen in Neuss.

Ein Nothaus der Firma Coenen in Neuss.

Foto: Coenen

Wer die Lagerhalle von Christian Coenen in einem Gewerbegebiet in Neuss betritt, muss unweigerlich an die russischen Matroschka-Püppchen denken. Doch während bei diesen immer kleinere Versionen einer Puppe ineinander gesteckt werden, hat Coenen dieses Prinzip mit Häusern nachgeahmt: In seiner Halle steht ein Haus und im Haus steht Coenen mit einem Plan des Hauses.

Eigentlich hat diese Hütte nicht viel mit seinem beruflichem Alltag zu tun. Das 1882 gegründete Familienunternehmen, das er inzwischen in der vierten Generation führt, kümmert sich eher um Dinge wie Arbeitsschutz und Dienstleistungen für die Industrie. Das Portfolio ist so breit, dass man auch nach einigen Erklärungen noch nicht genau sagen kann, wo Coenens Angebote anfangen bzw. aufhören: Seine Firma verkauft Brillen und Waschbecken, hilft bei der Kalibrierung von Gasmasken und kümmert sich darum, dass die Arbeitskleidung von Unternehmen gewaschen wird. Im Grunde ist die Firma Coenen eine Art Mädchen für alles, ein Problemlöser. Und nun will der Chef dabei helfen, die Probleme bei der Unterbringung von Flüchtlingen zu lösen.

Coenen steht in dem Haus in der Lagerhalle und deutet auf die Wände: Alles Holz. "Natürlich sollte die erste Variante immer sein, Immobilien anzumieten", sagt er. Doch wenn diese Kapazitäten erschöpft seien, brauche es andere Lösungen. Lösungen wie das Nothaus.

Seit täglich tausende Flüchtlinge nach Europa drängen, wittern auch findige Unternehmer ein Geschäft. Rund 20 Milliarden Euro gibt der Staat allein im kommenden Jahr laut dem Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen aus. So absurd es klingt: Aktuell ist die Flüchtlingskrise ein sehr erfolgreiches Konjunkturprogramm für die deutsche Wirtschaft.

Denn für jeden ankommenden Flüchtling wird zunächst eine Unterkunft benötigt, ein Bett, Verpflegung und Kleidung. Im zweiten Schritt winken weitere Einnahmemöglichkeiten für die unterschiedlichsten Anbieter: Sprach- und Integrationskurse, Schulungen oder andere Maßnahmen — überall muss der Staat auf Angebote aus der Privatwirtschaft zurückgreifen.

"Wir nehmen, was der Markt hergibt", heißt es in einer Behörde: "Wir sorgen schnell für Lösungen, natürlich liegt darin auch ein Risiko — aber dafür bewegt sich was." An vielen anderen Stellen im Land dürfte es nicht anders aussehen.

Der Druck, angesichts immer weiter steigender Flüchtlingszahlen für Lösungen zu sorgen, öffnet Tür und Tor für jede Menge Glücksritter, die versuchen, durch das zur Verfügung stellen von Wohnraum oder anderen Angeboten leichtes Geld zu verdienen. Zuletzt sorgte so etwa so mancher Anbieter von Wohncontainern für Schlagzeilen, der angesichts der großen Nachfrage plötzlich drastisch die Preise erhöhte.

Andere, wie Coenen, wehren sich gegen den Vorwurf, nur auf das schnelle Geld aus zu sein: "Mir geht es nicht darum, möglichst viel Geld mit den Flüchtlingen zu verdienen. Natürlich bin ich Unternehmer und muss Mitarbeiter bezahlen, aber ich bin auch von der Lösung überzeugt und halte sie einfach für besser als die Massenunterkünfte."

26.000 Euro kostet eines der Häuser, inklusive Montage, Badezimmermöbeln und Stromanschluss. Das von Coenen errichtete Beispielhaus hat eine Grundfläche von 32 Quadratmetern, es gibt einen schmalen Flur mit Kochnische, ein Badezimmer und jeweils ein Schlafzimmer für Eltern und Kinder. Innerhalb von vier Wochen könne das Haus geliefert und errichtet werden. "Der Vorteil ist, dass es keine Massenunterkunft ist", sagt Christian Coenen: "Die Flüchtlinge haben hier Privatsphäre."

300 Kommunen in NRW haben seine Mitarbeiter abtelefoniert. Einige haben sich das Haus bereits angeschaut, bestellt hat es noch keiner. "Wir bekamen oft zu hören, dass wir bereits der 20. Anrufer seien", sagt Coenen. Denn das Neusser Unternehmen ist längst nicht der einzige Anbieter. "Die Holzbaubranche hat innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl von Konzepten erarbeitet, um Bauaufgaben zur Unterbringung von Flüchtlingen lösen zu können", heißt es bei der Landesbehörde Wald und Holz NRW. In Münster, Gelsenkirchen oder Essen entstehen bereits erste Holzbauten.

Immerhin: Auch bei Coenen gibt es nach Unternehmensangaben inzwischen erste Interessenten, die sich vorstellen könnten insgesamt bis zu 120 Häuser zu kaufen. Coenen würde dies umgerechnet rund 3,1 Millionen Euro Umsatz bringen. Zum Vergleich: 2014 lag der gesamte Firmenumsatz laut Homepage bei 16,3 Millionen Euro.

Während Holzhütten, Zelte und Turnhallen nur Übergangslösung sind, profitiert langfristig vor allem die Immobilienwirtschaft. 200.000 Wohnungen werden nach Schätzungen des NRW-Bauministeriums in den kommenden Jahren benötigt — mehr als die Hälfte davon muss neu errichtet werden. Längst macht sich daher Bauminister Michael Groschek für eine Änderung der steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen stark, um den Wohnungsbau zu fördern.

Parallel dazu wird weiter an der Integration gearbeitet, um die Ankommenden mit Aussichten auf ein Bleiberecht schnellstmöglich fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Allein die in NRW stellt die Bundesagentur für Arbeit daher in diesem Jahr 10,6 Millionen Euro aus der so genannten Interventionsreserve zur Verfügung, um damit beispielsweise Sprachkurse zu finanzieren. Über die Gesamtkosten kann man bei der Regionaldirektion noch keine Angaben machen, klar sei bislang nur der Umfang des Angebots: "Wir finanzieren 20.000 Teilnehmerplätze in Sprachschulen." Dafür arbeite man mit unterschiedlichen Trägern zusammen.

Einer von ihnen ist "Die Schule", eines der größten privaten deutschen Bildungsunternehmen mit mehr als 30 Standorten bundesweit. Zwischen vier und 4,50 Euro bekommen die Träger pro Kursteilnehmer und Stunde — maximal 25 Teilnehmer, deren Kurs von der Agentur für Arbeit finanziert wird, dürfen jeweils dabei sein. Bei maximaler Belegung nimmt "Die Schule" also etwa 100 Euro pro Stunde ein, für den Dozenten werden zwischen 23 und 30 Euro fällig. Für einen Dolmetscher, der teilweise eingesetzt wird, kommen noch einmal zwischen 25 und 50 Euro hinzu. Wucher sind die Preise eher nicht. "Wir haben keinen Schaden davon, wir sind kein Profitunternehmen — auch wenn wir natürlich Geld verdienen müssen", sagt Ralf Stutzke, Regionalleiter der Bildungsregion West von "Die Schule". Teilnehmen dürften grundsätzlich nur Kursteilnehmer mit Aufenthaltsgenehmigung oder Bleibeperspektive. Das seien Syrer, Eritreer, Iraker und Iraner. "Aber wenn andere kommen und Deutsch lernen möchten, schicken wir sie nicht weg. Wir versorgen sie kostenlos mit." Ralf Stutzke ist es wichtig, das zu betonen.

Auch bei der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit wehrt man sich gegen die Vermutung, dass viele die Notsituation ausnutzen, um abzukassieren. Natürlich könne es Fehler geben oder Leute, die die Lage ausnutzen, heißt es. Umso wichtiger sei es, die Angebote immer wieder zu kontrollieren. "Die schwarzen Schafe müssen wir aufdecken", sagt ein Sprecher.

(fri,lkö)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort