Nach Tod eines 16-Jährigen in Wenden „Pubertierende verhalten sich in gewisser Weise wie psychisch Kranke“

Düsseldorf · Nachdem im Sauerland ein 14-Jähriger gestanden hat, einen 16-Jährigen erwürgt zu haben, ist die Bestürzung groß. Wie kann so ein junger Mensch eine so brutale Tat verüben? Kriminalpsychologin Ursula Gasch versucht Antworten zu geben.

Wenden: 14-Jähriger erwürgt 16-Jährigen nach Streit
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14-Jähriger erwürgt 16-Jährigen in Wenden

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Foto: dpa/Roland Weihrauch

Wie kommt es dazu, dass Menschen in so jungem Alter eine so brutale Tat begehen?

Ursula Gasch Es ist tatsächlich ein erstaunlicher Fall. Schon allein, weil man vermuten würde, dass ein 16-Jähriger einem 14-Jährigen körperlich weit überlegen ist. Damit widerspricht der Fall schon den typischen Bildern, die wir von Jugendlichen haben. Aber es gibt Jugendliche, die wesentlich reifer wirken, als sie tatsächlich sind.

Aber nur weil ein Jugendlicher schon sehr groß und stark ist, muss er nicht auch gewalttätig werden.

Gasch Nein. Man muss aber wissen, dass Aggressivität zum Menschen dazugehört. Das liegt daran, dass eine gewisse Aggression evolutionär auch schon immer überlebensnotwendig war, etwa um sich gegen Angreifer zu wehren oder um zu jagen. Als Kind oder während der Pubertät sind wir allerdings noch nicht in der Lage, mit unseren aggressiven Impulsen richtig umzugehen, und diese zu steuern. Die entsprechenden Gehirnfunktionen sind erst im Alter von circa 21 Jahren voll ausgebildet.

 Ursula Gasch ist Kriminalpsychologin und Notfallpsychologin. Sie leitet das Institut für Gerichts- und Kriminalpsychologie in Tübingen.

Ursula Gasch ist Kriminalpsychologin und Notfallpsychologin. Sie leitet das Institut für Gerichts- und Kriminalpsychologie in Tübingen.

Foto: Ursula Gasch

Das heißt, vorher kann man von seinen Impulsen übermannt werden?

Gasch Ja. Deswegen kann jemand bis zum 21. Lebensjahr auch unter das Jugendstrafrecht stellen. Neurologisch gesprochen geht es dabei um die Ausformung des Frontalhirns. Hat ein Erwachsener einen Unfall und sein Frontalhirn ist betroffen, erlebt man übrigens ähnliche Verhaltensweisen. Er kann vorher der netteste Mensch der Welt gewesen sein, ist das Frontalhirn betroffen, zeigt er unsoziale Verhaltensweisen, tendiert zur Aggression, zu verbalen Ausbrüchen, vielleicht trinkt er.

Was hat das mit dem Fall zu tun?

Gasch In diesem Fall kommen drei Dinge zusammen: das fehlende Steuerungsvermögen des eigenen Verhaltens. Das zweite ist die Pubertät. Das dritte die Emotionalität des Täters. Während der Pubertät erlebt man starke Gefühlsschwankungen. Innerhalb von Sekunden rasen die Gefühle vom Hoch in ein Tief. Pubertierende verhalten sich in gewisser Weise wie psychisch Kranke. Das liegt daran, dass im Gehirn zeitweise ein ähnliches Ungleichgewicht herrscht, wie wir es bei Patienten kennen, die schizophren sind und Psychosen erleben. Das klingt sehr drastisch, ist es aber nicht. Denn es ist ein Zustand, den wir alle durchlaufen, der natürlich ist und der sich auch von alleine wieder reguliert. Er ist auch nicht bei jedem gleichermaßen intensiv. Aber es hilft für diesen Fall, sich das vor Augen zu führen.

Laut dem Stand der aktuellen Ermittlungen soll der 14-Jährige dem 16-Jährigen seine Zuneigung gestanden haben. Es kann also sein, dass er aufgrund der Pubertät nicht damit zurecht kam?

Gasch Genau. Pubertät plus fehlende Impulskontrolle kann bei einer emotionalen Ablehnung zu einer Überreaktion führen, also zu einer unüberlegten Instinktreaktion.

Jemanden zu erwürgen kostet allerdings sehr viel Kraft und es geht auch nicht schnell. Spricht das nicht gegen eine Instinktreaktion?

Gasch Es spricht dafür, dass an der Tat extrem intensive Gefühle beteiligt waren, etwa Wut und Hass. Das ist natürlich Spekulation. Ich kenne den Jungen nicht. Ich weiß nicht, was zwischen den beiden vorgefallen ist, und ich bin nicht an den Ermittlungen beteiligt. Aber es spricht dafür, dass sich der 14-Jährige sehr in seinem Selbstwert angegriffen gefühlt hat und es möglicherweise eine Beziehungstat war.

Das klingt so, als müsste man vor pubertierenden Jugendlichen Angst haben.

Gasch Nein, man darf das nicht verallgemeinern. Nicht jeder gerät in der Pubertät in so starke emotionale Zustände. Außerdem zeigen die Zahlen, dass die Jugendkriminalität zwischen 2006 und 2015 um 40 Prozent zurückgegangen ist. 2017 gab es rund 190.000 Tatverdächtige im Alter zwischen 14 und unter 18. Von diesen standen 186 wegen Mordes unter Verdacht. Wenn so etwas passiert, ist das immer sehr bestürzend - aber die Zahlen zeigen, es sind Einzelfälle.

Susanne Hamann führte das Gespräch.

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