Prozess um versuchten „Ehrenmord“ in Essen Martyrium im Hinterhof
Essen · Vor acht Monaten wurde ein 19-Jähriger in Essen teilweise skalpiert und lebensgefährlich verletzt. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen startete im Landgericht Essen nun der Prozess gegen 13 Mitglieder einer syrischen Großfamilie.
Polizei-Bullis stehen am Dienstagmorgen vor dem Gebäude des Essener Landgerichts. Wer im ersten Stock in Saal N001 möchte, muss durch eine zweite Sicherheitsschleuse: Die Ausweise der Zuschauer werden kopiert, sie werden durchsucht, nicht alle finden Platz im Saal. Vier lange Stuhlreihen sind für die 13 Angeklagten, ihre Verteidiger und Dolmetscher reserviert. Nach und nach werden sie in den Saal gebracht, zehn von ihnen sind auf zehn verschiedene Justizvollzugsanstalten in NRW verteilt – und einige Gefangenentransporter steckten am Morgen im Stau.
Als Letzter betritt Mehyaddin O. den Saal. Der 25-Jährige wird begleitet von vier vermummten Beamten eines Spezialeinsatzkommandos. Er steht unter Personenschutz, weil er im Ermittlungsverfahren „umfassend ausgesagt hat“, wie ein Verfahrensbeteiligter sagt. Mehr als ein Dutzend Justizbeamte und Bundespolizisten sind im Saal.
Die Staatsanwaltschaft wirft den elf syrischen Männern und zwei Frauen den versuchten Mord an dem 19 Jahre alten Mohammad A. vor. Er stammt ebenfalls aus Syrien. Die Angeklagten sind zwischen 23 und 47 Jahre alt. Die Mitglieder einer Großfamilie lebten in Essen, Viersen und Freiburg.
Am 31. Mai 2018 sollen acht von ihnen A. in der Nähe seiner Wohnung in Essen abgepasst haben. Nach einem ersten Schlag schaffte A. es wegzurennen, doch die Verfolger entdeckten ihn im Hinterhof eines Getränkemarkts und prügelten mit Knüppeln und Holzlatten auf ihn ein. „Zwei filmten das Martyrium“, sagt die Staatsanwältin. Auf den Handyvideos zählten die Ermittler später allein 42 Schläge und Tritte, viele trafen den Kopf des 19-Jährigen. Einer der Angreifer sagt im Video, dass er A. ein Ohr abschneiden wolle, dann spricht er von „abschlachten“.
Eine Frau, die die Tat von ihrem Balkon aus beobachtete, alarmierte die Polizei und rettete A. so vermutlich das Leben. Er schwebte in akuter Lebensgefahr, die Täter hatten ihn teilskalpiert, ihm schwerste Kopfverletzungen zugefügt, seinen Darm und seine Leber mit einem Messer mehrmals durchstochen und ihm die Nase gebrochen.
Die Anklage sieht zwei Mordmerkmale: Heimtücke und niedere Beweggründe. Mohammad A. hatte ein Verhältnis zur gleichaltrigen Sina, die er im Deutschunterricht kennengelernt hatte. Das Mädchen gehört zur Familie der Angeklagten und ist mit einem 29 Jahre alten Cousin seiner Mutter verheiratet.
Als das Verhältnis mit ihrem Mitschüler bekannt wurde, „beschloss die Familie, beide zu töten, um die Familienehre wieder herzustellen“, wie die Staatsanwältin sagt. Auf Facebook waren Bilder von Sina und Mohammad A. aufgetaucht. Ihre Mutter soll mehrere Fotos an die Verwandten geschickt haben, damit die wissen, wie A. aussieht. Sie und ihre Schwester sollen dann die Beteiligten zum Familienrat am Telefon versammelt haben. Bei dem Treffen in der Wohnung von Sinas Eltern soll dann der Tatplan konkretisiert worden sein. In der Anklage wird die Wohnung in Viersen als „Schaltzentrale“ bezeichnet. Der Clan hatte später zunächst einen Mann im Visier, den er in einem Eiscafé in Essen beobachtete. Der Mann konnte den Tätern aber noch glaubhaft versichern, nicht der Gesuchte zu sein.
Neben Sinas Eltern und ihrem Mann sind die Tante und mehrere Cousins angeklagt. Die Tante soll Mohammad A. laut Anklage vor der Tat angerufen und ihm gesagt haben, dass er und Sina getötet würden. Einer der Beteiligten soll die anderen davon überzeugt haben, die 19-Jährige zu verschonen und nur A. zu töten. Sina wurde nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft vor der Tat zu einem Onkel und einer Tante gebracht und dort „unter Verschluss gehalten“. Das Handy nahm man ihr ab, um zu verhindern, dass sie ihren Liebhaber warnt. Der hatte nach einer überstandenen Not-Operation der Polizei sofort von Sina erzählt und dass er glaube, sie sei in Gefahr. Sina sagte den Beamten, sie habe sich bei ihren Verwandten sicher gefühlt und wolle mit den Ermittlungen nicht weiter belästigt werden.
Einer der Verteidiger beklagt am Dienstag, es habe eine öffentliche Vorverurteilung der Angeklagten mit den Schlagworten „Ehrenmord“ und „Familienclan“ gegeben. „Ich will ein faires Verfahren“, sagt er. Und fügt hinzu: „Die Vorwürfe werden sich nicht bestätigen.“
Neun der Beschuldigten wollen im Prozess schweigen. Der unter Personenschutz stehende Mehyaddin O. will seine Aussage, die er bei der Polizei gemacht hat, im Verfahren wiederholen. Der Prozess wird am 4. Februar fortgesetzt, ein Urteil wird frühestens im Juli erwartet.