Erdbeben-Katastrophe Zahl der Opfer steigt auf mehr als 35.000

Bonn/Kirikhan · Ein Team des Technischen Hilfswerks hat in der Nacht zum Sonntag gemeinsam mit türkischen Hilfskräften eine 88-jährige Frau lebend aus Trümmern im Erdbebengebiet gerettet. Und ein weiteres kleines Wunder ereignete sich: Ein Baby wurde aus den Trümmern gerettet. Die Zahl der Opfer ist unterdessen auf mehr als 35.000 gestiegen.

Türkei/Syrien: Schweres Erdbeben - Tausende Tote
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Schweres Erdbeben erschüttert Türkei und Syrien

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Foto: dpa/Anas Alkharboutli

Die Seniorin sei schwach, aber ansprechbar gewesen, sagte THW-Sprecherin Katharina Garrecht in der Stadt Kirikhan. „Das war ein schönes Erfolgserlebnis.“ Die 88-Jährige sei mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus gekommen.

Das THW und die Hilfsorganisation I.S.A.R Germany hatten am Samstag aus Angst vor möglichen Tumulten ihre Rettungsarbeiten unterbrochen. Die Helfer bleiben im gemeinsamen Basislager in Kirikhan. Sollten sie für eine Rettung angefordert werden, rücken sie weiterhin aus.

Im Fall der Rettung der 88-Jährigen riefen lokale Kräfte des türkischen Katastrophenschutzes und der Armee das THW am Samstag gegen 20 Uhr zur Einsatzstelle, wie Garrecht sagte. Über einen Dolmetscher hätten die Retter mit der Verschütteten sprechen können. Gegen 22 Uhr sei die Frau dann gerettet worden.

Laut THW wurden die Retter bei den Maßnahmen von Sicherheitskräften begleitet. Von eventuellen Anspannungen in der Region Hatay habe man vor Ort nach wie vor nichts mitbekommen, hieß es am Sonntag. Man sei auf die Informationen der türkischen Behörden angewiesen.

Am Samstag hatten die deutschen Retter eine Unterbrechung der Rettungsarbeiten damit begründet, dass es zunehmend Berichte über Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppierungen gebe und auch Schüsse gefallen sein sollen. Die deutschen Helfer waren davon aber nicht betroffen.

Sieben Monate alter Junge gerettet

Normalerweise kann ein Mensch höchstens 72 Stunden ohne Wasser auskommen. Hinzu kommen winterliche Temperaturen. Doch Meldungen wie diese geben den Rettern Mut: Nach 140 Stunden unter den Trümmern wurde der sieben Monate alte Junge in der türkischen Provinz Hatay lebend gerettet, wie der Staatssender TRT berichtete. Helfer hätten das Kind weinen gehört und seien so auf es aufmerksam geworden. In der Stadt Kahramanmaras wurde ein neun Jahre alter Junge nach rund 120 Stunden gefunden.

Am Sonntag wurden zudem im türkischen Adiyaman zwei Schwestern gerettet, die 153 Stunden in Kälte und Schutt überlebt hatten, wie der Fernsehsender Habertürk berichtete. Der Sender zeigte zudem, wie in der Stadt ein Sechsjähriger aus den Überresten des Hauses seiner Familie geholt wurde. Umstehende Frauen weinten vor Freude und Erleichterung.

Gesundheitsminister Fahrettin Koca verbreitete ein Video über die Rettung eines kleinen Mädchens. „Gute Nachricht in der 150. Stunde“ twitterte er. „Es gibt immer Hoffnung.“

Die Retter setzen verstärkt Wärmebildkameras ein, um in dem Trümmerchaos Überlebende aufzuspüren. Türkische und italienische Helfer fanden in Antakya einen 35 Jahre alten Mann, wie der Sender NTV berichtete. Der Überlebende sah unversehrt aus und wurde in einen Krankenwagen getragen. In der selben Stadt wurde eine 32-Jährige aus den Trümmern eines achtstöckigen Hauses gerettet. Sie habe erst einmal um einen Tee gebeten, meldete NTV.

Die Zahl der Erdbebenopfer in Syrien ist deutlich höher als bislang angegeben. Nach Informationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind in den Rebellengebieten im Nordwesten mindestens 4500 Menschen ums Leben gekommen, in Regionen unter Regierungskontrolle etwa 1400. Die Zahlen nannte der Nothilfekoordinator für die WHO-Region Östliches Mittelmeer, Richard Brennan, am Samstag in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Die Zahl dürfte aber weiter steigen, sagte Brennan. Die Gesamtzahl der Toten in der Türkei und Syrien steigt damit auf mehr als 35.000. Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths rechnete sogar mit bis zu 50.000 Toten und mehr, wie er dem Sender Sky News im Erdbebengebiet Kahramanmaras sagte. Die Türkei spricht inzwischen von einem Jahrhundert-Erdbeben.

Die syrischen Staatsmedien veröffentlichten seit Donnerstag keinen neuen Stand zu den Todesopfern. Diese Zahlen steigen in Syrien deutlich langsamer als in der Türkei, was auch daran liegen dürfte, dass viele Opfer in Syrien mangels passender Geräte und Ausrüstung noch nicht aus den Trümmern gezogen werden konnten. Zudem lag das Epizentrum im Nachbarland Türkei.

UN-Koordinator räumt Fehler ein

Vor allem die Türkei wird von internationalen Hilfsteams unterstützt. Laut Außenministerium sind mehr als 8000 ausländische Helfer vor Ort. Im Nordwesten Syriens in den Rebellengebieten bekam die Rettungsorganisation Weißhelme Unterstützung aus Katar. In Syrien läuft seit fast zwölf Jahren ein Bürgerkrieg. Das erschwert die Hilfe für die Betroffenen enorm. UN-Nothilfekoordinator Griffiths räumte bei Twitter ein: „Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen.“

Über das Wochenende fuhren mehr als 20 weitere Lastwagen an die türkisch-syrische Grenze, um Güter unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem UN-Kinderhilfswerk Unicef in den Nordwesten Syriens zu bringen.

Neben der ohnehin gefährlichen Arbeit zwischen den Trümmern bereitet den Rettungsteams ein anderer Aspekt Sorgen: „Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein“, sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis vom österreichischen Bundesheer am Samstag der Nachrichtenagentur APA. Nach einer Unterbrechung setzten die Soldaten ihre Arbeit fort. Die türkische Armee habe den Schutz der Einheit übernommen.

Auch deutsche Einsatzkräfte vom Technischen Hilfswerk (THW) und der Hilfsorganisation I.S.A.R Germany unterbrachen ihre Arbeit, bleiben aber vor Ort, um bei konkreten Hinweis auf Überlebende auszurücken. I.S.A.R-Einsatzleiter Steven Bayer sagte: „Es ist festzustellen, dass die Trauer langsam der Wut weicht.“ Viele Überlebende sind traumatisiert und trauern um Familienmitglieder.

Seuchengefahr wächst

Und nun droht auch noch die Gefahr von Krankheiten. „In den Regionen, wo Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, drohen irgendwann Seuchen“, sagte Thomas Geiner, erdbebenerfahrener Mediziner und Teil des Teams der Katastrophenhelfer vom Verein Navis. Die Menschen leiden noch immer unter eisigen Temperaturen. Ein Reporter des Senders CNN Türk sagte, in der Provinz Hatay mangele es an Heizgeräten. Zwar gebe es Zelte, aber diese könnten nicht aufgewärmt werden. Zudem würden mobile Toiletten dringend benötigt.

Am frühen Montagmorgen (6.2.) hatte ein Beben der Stärke 7,7 das Grenzgebiet erschüttert, gefolgt von einem weiteren Beben der Stärke 7,6 am Mittag. Seither gab es bis Samstag mehr als 2000 Nachbeben in der Region, wie die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad mitteilte.

Festnahmen in der Türkei

Im Süden der Türkei wurden mehrere Haftbefehle erlassen. Die Beschuldigten sollen für Baumängel verantwortlich sein, die den Einsturz der Gebäude begünstigt hätten, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Strafverfolger. Experten kritisieren, dass erdbebensichere Bauvorschriften zwar auf dem Papier bestehen, aber nicht umgesetzt werden. Die Opposition macht die Regierung für den Pfusch am Bau mitverantwortlich - es gebe nicht ausreichend Kontrollen, lautet etwa die Kritik.

Bei den Bemühungen um mehr Hilfe will die Stadt Berlin eine Hilfsbrücke einrichten. Die Bundesregierung will zudem ein unbürokratisches Visaverfahren für Betroffene ermöglichen, damit sie zeitweilig zu Familienangehörigen in Deutschland unterkommen können. Das Auswärtige Amt teilte dazu mit: „Ziel ist es, das Visaverfahren für diese Fälle so unbürokratisch wie möglich zu machen.“

(felt/dtm/dpa)
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