Blomberg in NRW Eine Stadt ohne Verkehrszeichen
Blomberg in NRW · Sechs Wochen teilen sich Autofahrer und Fußgänger in Blomberg im Lipperland gleichberechtigt den öffentlichen Raum – die Stadt hat 33 Verkehrsschilder außer Kraft gesetzt. Das Experiment soll die Lebensqualität steigern. Die Anwohner reagieren eher skeptisch.
Sechs Wochen teilen sich Autofahrer und Fußgänger in Blomberg im Lipperland gleichberechtigt den öffentlichen Raum — die Stadt hat 33 Verkehrsschilder außer Kraft gesetzt. Das Experiment soll die Lebensqualität steigern. Die Anwohner reagieren eher skeptisch.
Helmut Müller nennt das Projekt eine Idee von Leuten, die keine Ahnung haben. Rollstuhlfahrer müssten auf die Straße ausweichen, Kinder könnten nicht mehr ungefährdet spielen. Für Anna Bauer ist das Ganze einfach ein großes Durcheinander, und Werner Hilker sieht darin, immerhin, ein organisiertes Chaos. In Blomberg gibt es nur noch ein Thema, und jeder, wirklich jeder im Ort hat eine Meinung dazu.
Meistens, so die Bilanz einer kleinen Umfrage, eine negative. Was ist passiert? Blomberg hat als erste Stadt in NRW seine Verkehrssschilder außer Kraft gesetzt. Sechs Wochen lang gibt es keine Zeichen für Vorfahrt, Halteverbot oder Fahrtrichtung. Autofahrer und Fußgänger teilen sich den öffentlichen Raum als gleichberechtigte Partner. So weit die Theorie.
"Das Auto ist nicht mehr Mittelpunkt der Verkehrsphilosophie", erklärt Reinhard Quante, einer der Väter des Blomberger Projekts, den Grundgedanken. Der stammt aus Holland, heißt "shared space", geteilter Raum, und geht davon aus, dass die Städte überreguliert sind — jeder weiß, wie schwer es manchmal fällt, sich im Schilderwald zu orientieren. Die Idee: Ohne Verkehrszeichen und mit einem nivellierten Straßenbild — also ohne Bordsteine — wachsen städtische Identität und Lebensqualität, weil alle den Raum gleichermaßen nutzen. Wichtigste Voraussetzung ist die gegenseitige Rücksichtnahme.
Und genau da hapert es in der Praxis. Rund 1500 Autos rollen täglich durch die Blomberger Altstadt. Vorgeschrieben ist Tempo 20. "Aber nur ein Drittel hält sich daran", sagt Stadtsprecher Uwe Praschak. Wenn jedoch Fußgänger und Pkw sich den Raum teilen, müssen die Autos langsam fahren. Sonst entsteht Angst — auf beiden Seiten. Zwar ist eine gewisse Verunsicherung erwünscht, aber eben nur bis zu einem bestimmten Maß. Für manche Anwohner ist das überschritten. "Ich finde es nicht so toll, wenn mir die Autos um die Hacken fahren", sagt beispielsweise Werner Hilker.
Am stärksten verändert hat sich die Situation am Marktplatz. Vorher war der Platz mit Pollern vom Verkehr abgetrennt, jetzt stehen dort Bänke, Tische und Blumenkübel. Die Autos dürfen drumherum fahren, kreuz und quer über den Platz — und tun es auch. Und nicht nur das. "In den ersten Tagen haben sie dort auch wild geparkt. Das haben wir dann durch die Platzierung der Bänke unterbunden", so Praschak. Generell darf aber überall geparkt werden — so lange man niemanden behindert. Denn auch wenn insgesamt 33 Schilder verhangen wurden, gelten doch die Regeln der Straßenverkehrsordnung, zum Beispiel "Rechts vor Links".
Deutlich belebter sei der Platz jetzt, argumentiert Praschak, deutlich gefährlicher für spielende Kinder, glaubt Anwohner Helmut Müller. Der gemeinsame Raum wird offensichtlich unterschiedlich wahrgenommen. Dass das Projekt in Blomberg überhaupt realisiert wurde, liegt an mehreren Faktoren. Zum einen existiert traditionell eine Nähe zu Holland, wo bereits über 100 Orte das Konzept "shared space" umgesetzt haben. Zum anderen gibt es im Kern der Altstadt keine Bordsteine, also keine Trennung zwischen Fahrbahn und Fußgänger-Bereich — ein wesentlicher Aspekt, um den gemeinsamen Raum auch als solchen zu empfinden. So ließ sich das Projekt kostengünstig umsetzen — bezahlt werden musste nur die Künstlerin, die um die Verkehrsschilder mit Blumen bemalte Holzplatten nagelte.
Eine Diplom-Ingenieurin der Fachhochschule Höxter begleitet das sechswöchige Experiment. Bei der Stadt erhofft man sich davon Rückschlüsse etwa auf die Verkehrsführung. "Zum Beispiel müssen nicht fast leere Linienbusse mitten durchs Zentrum fahren", sagt Quante. Der Wille, die Lebensqualität der Menschen in Blomberg anzuheben, ist bei den Projektvätern spürbar. Um das wirklich zu erreichen, müsse man aber, gibt Stadtsprecher Praschak zu, noch etwas nachbessern, unter anderem Transparente aufhängen, um auch auswärtige Autofahrer auf die besondere Situation in Blomberg aufmerksam zu machen.
Und die Stadt will die Behindertenparkplätze wieder als solche kenntlich machen. Zu viele andere Autofahrer hatten bisher einfach dort geparkt, nicht ahnend, dass sie einem Behinderten den Platz wegnehmen. "Das hat nicht funktioniert", gesteht Praschak ein. Geahndet wird das aber nicht. Im gemeinsamen Raum gilt gleiches Recht für alle — selbst dann, wenn Einzelne benachteiligt werden.