Drogen, Alkohol, Online-Glücksspiel Mehr Angehörige aus NRW suchen Hilfe für Suchtkranke

NRW · Im Rhein-Kreis Neuss haben 2020 doppelt so viele Angehörige nach einer Beratung für ihre suchtkranke Familienmitglieder oder Partner gefragt. Auch in anderen Regionen beobachten Caritas und Diakonie einen Anstieg.

 Im Lockdown fliegen in Familien Probleme wie Alkoholmissbrauch eher auf.

Im Lockdown fliegen in Familien Probleme wie Alkoholmissbrauch eher auf.

Foto: dpa/Alexander Heinl

Immer mehr Angehörige von Suchtkranken suchen in NRW nach Hilfe. Bei den Beratungsstellen der Caritas im Rhein-Kreis Neuss haben sich 2020 im Vergleich zum Jahr davor doppelt so viele Angehörige gemeldet. Auch bei der Diakonie steigen die Anfragen. Dafür gibt es zwei Hauptgründe: Die Pandemie beschleunigt Suchtprobleme, sie fallen aber derzeit auch eher auf.

Innerhalb von Familien sei Sucht manchmal wie ein „Elefant im Wohnzimmer“, sagt Markus Lahrmann, Sprecher der Caritas in NRW. Die Sucht eines Familienmitglieds sei häufig für alle offensichtlich, aber lange Zeit spreche niemand darüber. Und selbst wer seine Sucht bisher verheimlichen konnte, fliegt jetzt auf. „Vor dem Lockdown boten zum Beispiel Schule und Arbeit eine Menge Nischen, um heimlich zu konsumieren“, sagt Angelika Schels-Bernards, Referentin für Suchthilfe der Caritas für das Erzbistum Köln.

Im Rhein-Sieg-Kreis hat sich die Beratungszeit für Angehörige bei den Stellen der Caritas teilweise vervierfacht. Während die Mitarbeiter dort im Januar des vergangenen Jahres noch 15 Stunden damit verbrachten, mit Familienmitglieder und Partnern über die Situation von Suchtkranken zu sprechen, waren es im September 66 Stunden. Zwar ist dieser Aufwand im Februar auf 53 Stunden gesunken. Er bleibt damit aber trotzdem wesentlich höher als in den Zeiten vor der Pandemie. „Es sind die Angehörigen, die sich zuerst melden, nicht die Betroffenen selbst“, sagt Lahrmann. Die deutlich höhere Zeit der Beratungen von Angehörigen sei deswegen ein Indiz dafür, dass nicht nur die Anfragen, sondern auch problematisches Suchtverhalten an sich zugenommen habe.

Gerade für Menschen, die nach einer Sucht abstinent leben, sei der Lockdown Gift, sagt Referentin Schels-Bernards. „Frustration und Einsamkeit, aber auch Kurzarbeit oder Entlassungen, können Menschen zurück in die Abhängigkeit treiben.“ Wer etwa tagsüber schon Alkohol trinkt und keine Tagesstruktur hat, kann im Lockdown schnell ein unkontrolliertes Suchtverhalten entwickeln.

Bei der Diakonie beobachten Experten ebenfalls, dass immer mehr Angehörige von Suchtkranken nach Hilfe suchen, insbesondere wenn es um Alkohol geht. „Wir verzeichnen bei den Anfragen eine Steigerung von mindestens zehn Prozent, in vielen Beratungsstellen liegen die Zahlen deutlich höher“, sagt Ralph Seiler, Referent für Sucht bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (RWL) und Geschäftsführer des Evangelischen Fachverbandes Sucht RWL.

Einen auffälligen Anstieg gebe es auch bei Online-Sucht, sagt Seiler. „Viele Menschen sind durch die Beschränkungen auf sich selbst bezogen – durch fehlende soziale Kontrolle nehmen Abhängigkeitsprobleme zu.“

Bei der Caritas macht man sich Sorgen um die Folgen des Anstiegs, die sich jetzt schon abzeichnen. „Bei den telefonischen Anfragen haben die Kapazitäten in Spitzenzeiten bei weitem nicht ausgereicht“, sagt Lahrmann. Aber sie reichten auch generell nicht aus. „Auf einen Ersttermin musste auch vorher schon drei bis vier Wochen gewartet werden.“ Nach dem Lockdown sei zu erwarten, dass noch mehr Menschen die Beratungsstellen aufsuchen. Diese Sorge gibt es auch bei der Diakonie. „Wir gehen von einem deutlichen Anstieg beim Bedarf nach Beratung und Unterstützung suchtgefährdeter Menschen. Das kann das System absehbar an Kapazitätsgrenzen führen.“

Diakonie und Caritas sind zusammengenommen Träger der überwiegenden Mehrheit der 170 Sucht- und Drogenberatungsstellen in NRW. Mehr als 90 Prozent dieser Stellen werden von den beiden kirchlichen Träger geführt. Angesichts der Pandemie warnt die Caritas vor einer bröckelnden Finanzierungsgrundlage. Die Suchtberatung wird durch die Kommunen refinanziert. „Das geschieht überwiegend durch Pauschalfinanzierungen“, sagt Lahrmann. Er befürchtet, dass Kommunen wegen der finanziellen Ausfälle der Pandemie an der falschen Stelle sparen. Mit der Folge, dass Menschen dann noch länger auf eine Beratung für ihre Suchtprobleme warten müssen.

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