Disziplinarverfahren gegen weitere Beamte Polizist im Fall des getöteten 16-Jährigen in Dortmund suspendiert

Dortmund · Die Justiz weitet die Ermittlungen im Fall des getöteten Jugendlichen in Dortmund deutlich aus. NRW-Innenminister Herbert Reul unterrichtete den Landtag am Donnerstag über die neuesten Erkenntnisse.

In Dortmund hatten Trauernde nach der Tat Kerzen und Blumen niedergelegt.

In Dortmund hatten Trauernde nach der Tat Kerzen und Blumen niedergelegt.

Foto: dpa/Gregor Bauernfeind

Die Ermittlungen um den Tod eines 16-Jährigen, der Anfang August in Dortmund durch Polizeikugeln ums Leben kam, werden nach Informationen unserer Redaktion massiv ausgeweitet. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) informierte am Donnerstag in einem mehrseitigen Brief den NRW-Landtag über den Stand der Ermittlungen. In dem Schreiben, das unserer Redaktion vorliegt, heißt es zunächst, dass die Ermittlungen gegen den Polizisten, der die Schüsse aus der Maschinenpistole abgegeben hat, andauern. Möglicherweise könnten sich diese aber verschärfen.

Darüber hinaus seien Ermittlungen gegen alle übrigen Polizeibeamten eingeleitet worden, die während des Einsatzes Waffen oder Einsatzmittel gegen den Jugendlichen eingesetzt haben und zwar:

  • Gegen eine Polizeibeamtin, die das Reizstoffsprühgerät (RSG 8) verwendet und den Jugendlichen mit Reizstoff besprüht hat.
  • Gegen eine Polizeibeamtin und einen Polizeibeamten, die das Distanz-Elektroimpulsgerät (DEIG) gegen den Jugendlichen eingesetzt haben; gegen beide jeweils wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt.
  • Gegen den polizeilichen Einsatzleiter, der den Einsatz des Reizstoffsprühgeräts angeordnet und auch weitere Anordnungen zum Einsatzablauf getroffen hat, wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung im Amt.

Am Donnerstagabend teilte die Dortmunder Polizei dann mit, dass gegen alle Beamtinnen und Beamten, gegen die im Strafverfahren ermittelt werde, Disziplinarverfahren eingeleitet wurden, die – wie in solchen Fällen üblich – für die Dauer des Strafverfahrens ausgesetzt worden seien. Zudem sei einer der beteiligten Beamten vorläufig vom Dienst suspendiert worden. Vier weitere Polizisten seien „in andere Tätigkeitsbereiche des Polizeipräsidiums Dortmund umgesetzt worden“.

NRW-Innenminister Herbert Reul erklärte:„Dass sich die Ermittlungen jetzt auch auf vier weitere Beamte beziehen und sich der Tatverdacht gegen den Schützen möglicherweise verschärfen könnte, schafft eine neue Lage. Das zeigt auch, dass hier genau hingeschaut wird“, sagte Reul. „Staatsanwaltschaft und Polizei klären sauber auf; ich habe Vertrauen in das rechtsstaatliche Verfahren. Gleichzeitig ist eben dieses Verfahren noch nicht am Ende – es handelt es sich bisher um einen Anfangsverdacht“, so Reul weiter. Über die Frage, ob sich Polizeibeamte in der konkreten Situation richtig oder falsch verhalten haben, werde am Ende die Justiz entscheiden. Dieser Fall werde jetzt sorgfältig untersucht, biete jedoch keinen Anlass für Verallgemeinerungen, betonte Reul.

Der unbegleitete Flüchtling war von einem Polizisten erschossen worden. Die Staatsanwaltschaft Dortmund und die Polizei Recklinghausen rekonstruieren die Geschehnisse. Nach bisherigem Ermittlungsstand war der 16-Jährige trotz des Einsatzes von Pfefferspray und Tasern im Innenhof einer Jugendhilfeeinrichtung mit einem Messer (mit einer 15 bis 20 Zentimeter langen Klinge) auf die Beamten zugegangen. Ein zur Sicherung abgestellter Polizist schoss daraufhin sechs Mal mit seiner Maschinenpistole, mehrere Kugeln trafen den Jugendlichen. Die Bodycams der beteiligten Beamten waren nicht eingeschaltet.

Laut Bericht haben die bisherigen Ermittlungen ergeben, dass abweichend zu dem bislang mitgeteilten Sachverhalt nicht elf, sondern insgesamt zwölf Polizisten vor Ort eingesetzt waren, davon vier in ziviler Kleidung. Die Auswertung der Distanzelektroimpulsgeräte habe ergeben, dass bei dem ersten Schuss ein Stromkreis nicht hergestellt werden konnte, da den 16-Jährigen lediglich eine von zwei Pfeilelektroden (wahrscheinlich an der Schläfe) traf. Das zweite Gerät stellte demnach zwar für etwa fünf Sekunden einen geschlossenen Stromkreis her. Allerdings hätten die Pfeilelektroden keine genügende Spreizung zueinander aufgestellt, um ihn bewegungsunfähig zu machen. „Bei dem Getöteten entstand wahrscheinlich jedoch eine Schmerzwirkung. Das Messer hielt der Getötete weiterhin in einer Hand, wobei aufgrund unterschiedlicher Zeugenangaben bislang nicht abschließend geklärt ist, wie genau er es führte“, heißt es in dem Bericht. Ebenso sei bislang nicht abschließend geklärt, ob und wie weit der Jugendliche sich noch fortbewegte.

Auch, so steht es in dem Bericht, gehen die Ermittler derzeit davon aus, dass der Getötete von vier und nicht wie zunächst angenommen von fünf Projektilen getroffen wurde. Demnach durchschlug ein Projektil ein Körperteil und trat an anderer Stelle erneut in den Körper ein. Im Ermittlungsverfahren befragt als Zeugen wurden die vor Ort anwesenden Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung sowie alle beteiligten Polizeibeamten – mit Ausnahme des Polizisten, der von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hat. Auch das eingesetzte Rettungsdienstpersonal wurde befragt.

Dem Bericht zufolge trug sich der Fall wie folgt zu: Der 16-Jährige war am Wochenende vor der Tat in die Wohngruppe der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth in der Dortmunder Nordstadt zurückgekehrt. Am 8. August verständigte ein Betreuer gegen 16.25 Uhr die Polizei. Er meldete, dass sich der 16-Jährige im Innenhof der Einrichtung ein Messer vor den Bauch halte – vermutlich in suizidaler Absicht. Der Jugendliche würde kein Deutsch sprechen. Eine Betreuerin soll vergeblich versucht haben, den Jugendlichen zu überzeugen, das Messer wegzulegen.

Ein Polizist habe dann den 16-Jährigen auf Englisch, Portugiesisch, Spanisch und Deutsch aufgefordert, das Messer wegzulegen – ebenfalls ohne Erfolg. Auf Anordnung des Dienstgruppenleiters besprühte dann eine Polizistin den Jugendlichen mit Pfefferspray. Daraufhin sei er aufgesprungen und in Richtung der Polizisten gegangen, die zunächst etwa fünf bis sechs Meter von ihm entfernt standen. Daraufhin wurde mit dem sogenannten Taser auf ihn „geschossen“. Der Jugendliche wurde am Hals und am Glied getroffen. Dies zeigte laut Bericht aber jedoch keine Wirkung.

Stattdessen ging der 16-Jährige laut Bericht weiter auf die Polizisten zu. Dabei hielt er das Messer in der Hand mit der Spitze nach oben vor seinen Bauch. Als er etwa zwei bis drei Meter von einem Polizisten entfernt war, gab dieser mit der von ihm geführten Maschinenpistole, einer MP5, mehrere Schüsse auf ihn ab. Getroffen wurde er im Kopf, in der Schulter vorne, im Unterarm, im Bauch und in der Schulter hinten.

„Wir haben den Sachverhalt von Anfang an sehr ernst genommen und deshalb stets darauf gedrungen, dass der Innenminister das Parlament umfassend informiert. Durch diesen Bericht sind jetzt zahlreiche neue Details ans Licht gekommen. Damit ergibt sich eine neue Lage in diesem ohnehin schon dramatischen Fall“, sagte Christina Kampmann von der SPD. Es sei gut, dass eine unabhängige Behörde für Aufklärung sorge. „Der Innenminister hat sich bisher einer aktiven Rolle bei der Aufarbeitung verweigert. Das war falsch. Die Zahl der neuen Erkenntnisse zeigt, dass auch die politische Aufarbeitung weitergehen muss, um die richtigen Schlüsse für die Polizeiarbeit daraus zu ziehen", so Kampmann weiter.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort