Cannabis-Freigabe, Klinikreform, Lobbyismus-Vorwürfe Lauterbach am Pranger der Ärzte – zwei Stunden lang

Essen · Zwei Stunden prasselte beim Deutschen Ärztetag in Essen Kritik auf den Bundesgesundheitsminister ein. Lauterbach konnte dann nur noch 5000 neue Medizin-Studienplätze in Aussicht stellen.

 Karl Lauterbach hatte beim Ärztetag einen schweren Stand.

Karl Lauterbach hatte beim Ärztetag einen schweren Stand.

Foto: dpa/Henning Kaiser

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach betont gerne, dass er selbst Kollege der Ärzte sei und das Gesundheitssystem in ihrem Sinne reformieren möchte. Doch bei den Ärzten kommt das ganz anders an. Cannabis-Freigabe, Krankenhausreform, Mangelverwaltung – die Ärzte finden vieles falsch. Und so hatte der SPD-Politiker einen schweren Stand, als er am Dienstag in Essen beim Deutschen Ärztetag auftrat. „Wir brauchen mehr medizinisches Personal. Ich werde mich dafür einsetzen, die Zahl der Studienplätze um 5000 zu erhöhen“, sagte Lauterbach.

In Essen waren 250 Delegierte und Hunderte Besucher zum 127. Deutschen Ärztetag zusammengekommen. Der Ärztetag ist das Parlament der deutschen Ärzteschaft und tagt jedes Jahr in einer anderen Stadt. Dieses Mal findet er noch bis zum 19. Mai 2023 in der Philharmonie statt, dem Konzertsaal der Ruhr-Metropole. Zwar gab es zur Begrüßung vom Folkwang Kammerorchester Essen das Steigerlied und Impressionen aus dem eingestellten Steinkohle-Bergbau, doch harmonisch war wenig.

Klaus Reinhardt, als Präsident der Bundesärztekammer Gastgeber, hatte schon vorab im Interview mit unserer Redaktion kritisiert, dass es bei Lauterbachs Reformen keinen roten Faden gebe. „Kaum etwas passt zusammen, vieles bleibt Stückwerk“, sagte Reinhardt. Er nehme es Lauterbach zwar ab, „dass er Dinge wirklich positiv verändern will“. Doch statt Krankenhaussektor und Praxen sinnvoll zu verzahnen, lasse er die Praxen bei der Klinikreform außen vor. „Ich halte es für einen schweren politischen Fehler, dass Sie das Engagement Ihrer eigenen ärztlichen Kollegen als Lobbyismus diskreditieren, statt dieses wertvolle Erfahrungswissen zu nutzen“, griff Reinhardt den Minister direkt an. Der saß wie versteinert in der erste Reihe. Dass Kammern und Parlament zur Begutachtung neuer Gesetze oft nur Stunden hätten, sei demokratiegefährdend, so Reinhardt. Starker Applaus folgte.

Ein großer Streitpunkt ist auch die von Lauterbach geplante Legalisierung von Cannabis. Reinhardt forderte die Länder auf, dies zu stoppen, indem sie keine Modellregionen genehmigen. Sie würden damit viel für den Jugendschutz tun. Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein, pestete, man solle nicht über Mitgliedschaften in Cannabis Social Clubs diskutieren, sondern die Prävention stärken. Großer Applaus der Gäste, Lauterbach musste sich über zwei Stunden lang die Kritik von vielen Seiten anhören.

Weitere Vorwürfe an Lauterbach: Er habe den Ärzten im Handstreich die Honorierung für Neupatienten gestrichen. „Der Wegfall der Neupatientenregelung war versorgungspolitisch völlig unsinnig, vor allem ist er ein Affront gegenüber den Kolleginnen und Kollegen, die in der Pandemie wirklich Herausragendes geleistet haben“, sagte Reinhardt. Ein Dauerärgernis sei auch die Digitalisierung: „Für unzureichende technische Lösungen haben wir keine Zeit“, sagte der Ärztepräsident. Die Ampel habe kein wirkliches Interesse an den Freiberuflern, bei der Reform der privatärztlichen Abrechnung spiele Lauterbach auf Zeit, ging das Trommelfeuer des Ärztepräsidenten weiter. „Die Geduld der Ärztinnen und Ärzte ist zu Ende.“

Der Gescholtene selbst kam erst nach über 120 Minuten zu Wort. Erst ehrte der Ärztetag zu Beethovens Pathetique verstorbene Ärzte und zeichnete Mediziner mit der Paracelus-Medaille, der höchsten Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft für verdiente Ärzte, aus. Dann endlich konnte Lauterbach antworten. Doch er konnte das Ruder nicht herumreißen: Selbstverwaltung sei mehr als Lobbyismus, lautete seine schwache Replik, und er danke den Ärzten für die Arbeit in der Pandemie. „Wir brauchen eine Entökonomisierung der Medizin“, sagte Lauterbach. Da gab es dann wenigstens etwas Applaus. Er kündigte mehr Hilfen bei der Bereitstellung für Krebsmedikamente an und eine Entbudgetierung für Kinderärzte. Bei der Reform der Notfallversorgung werde es keine Eintrittsgebühr geben.

Ausgerechnet als der Minister über die Digitalisierung sprach („Telemedizin ist nicht an die Praxis gebunden, das geht auch von zuhause“) fiel das Mikrofon aus. „So ist das auch in der Praxis, wenn mal wieder die IT ausfällt“, rief ein Arzt aus dem Publikum. Lauterbach wirkte ohne Ton verloren auf der Bühne, bis es endlich ein Handmikro als Ersatz gab. Lauterbach riss die Arme hoch wie der Läufer beim Zieleinlauf. Wenn es so einfach wäre.

NRW-Gesundheitsminister Karl Josef Laumann (CDU) begrüßten den „lieben Karl“ zwar freundlich, mahnte aber auch, dass dieser seiner Klinikpläne nicht gegen die weit gediehene NRW-Reform stellen dürfe: „Wir beide haben die Verantwortung, dass die Kliniken mit der Reform umgehen können.“ Großen Applaus bekam Laumann, als er seine Abneigung gegen renditegetriebene medizinische Versorgungszentren (MVZ) bekundete. „Ich will, dass es noch eine breite Mittelschicht gibt – und das sind auch die Freiberufler.“ Zugleich forderte Laumann, dass zur Sicherung der Fachkräfte mehr Studienplätze angeboten werden müssten. Derzeit kommen in NRW zehn Bewerber auf einen Medizin-Studienplatz.

Zum Schluss wurde die Nationalhymne angestimmt. Wie laut Lauterbach mitsang, war nicht zu hören. Tradition verpflichtet auf dem Ärztetag.

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