Tausende Stellen in Gefahr „Wenn Bayer hustet, hat die Stadt eine Lungenentzündung“

Leverkusen · Leverkusen ist abhängig vom Bayer-Konzern. Doch dieser muss nun bundesweit Tausende Stellen streichen, vor allem an seinem Hauptsitz. Die Bürger sind besorgt.

Bayer in Leverkusen: Das sagen die Menschen zur Krise
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Das sagen die Menschen in Leverkusen zur Bayer-Krise

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Foto: Christoph Reichwein (crei)

„Ach“, stöhnt Aloysia Wehner und winkt ab, als man sie auf Bayer anspricht. „Hört mir bloß mit denen auf. Die ziehen sich ja aus allem zurück und lassen Leute wie mich allein“, sagt die 63-Jährige, während sie im Vorgarten ihre Blumen gießt. Ihr ganzes Leben schon wohnt sie in der Wiesdorfer Siedlung nahe des Chemparks, der ehemaligen Bayer-Werkskolonie, die ab 1900 für die Fabrikarbeiter errichtet worden ist. Man sei immer stolz gewesen hier zu wohnen, sagt Wehner, die putzen gehen muss, um ihre kleine Rente etwas aufzubessern. Die gute Nachbarschaft, die Ordnung, der Zusammenhalt hätten das Leben in der Siedlung bestimmt. Doch damit sei es vorbei, seit Bayer die Kolonie vor zehn Jahren an eine private Wohnungsgesellschaft verkauft hat. „Das Leben hier ist dadurch schlechter geworden für die Menschen“, sagt die 63-Jährige. Dringende Reparaturen an den Häusern blieben liegen. Ein Nachbar von ihr kommt vorbei und sagt: „Wenn früher der Wasserhahn bei einem in der Kolonie getropft hat, musste man nur Bayer anrufen und die kamen sofort raus.“

Einen seit Jahren schleichenden Rückzug des sozialen Engagements des Weltkonzerns stellen viele Leverkusener fest. Und das mit zunehmender Sorge. Umso mehr sorgen sie sich, wenn es dem Unternehmen wie jetzt nicht gut geht, der Verlust Tausender Arbeitsplätze droht, weil der Pharma- und Agrarchemie-Konzern den Rotstift gezückt hat. Bundesweit sollen 4500 Stellen gestrichen werden, den Standort Leverkusen, Bayers Unternehmenssitz, soll es besonders hart treffen.

„Wenn Bayer hustet, hat die Stadt eine Lungenentzündung“, sagt Carmen Rippich, die 44 Jahre für Bayer gearbeitet und im Betriebsrat gesessen hat. Das Monsanto-Desaster habe den Konzern in die größte Krise seiner Geschichte gestürzt, meint sie. „Es gab immer mal schlechte Nachrichten. Aber das jetzt ist was anderes“, sagt Rippich, die als 14-Jährige bei Bayer angefangen hat. „Das jetzt macht vielen Angst.“ Den Niedergang des Konzerns könne man auch an einer Redensart festmachen, die sich verändert habe. So habe man früher gesagt, Köln sei der Parkplatz für Leverkusen. „Heute ist Leverkusen nur noch der Parkplatz für Köln.“ Mehr müsste man eigentlich nicht sagen.

Kaum eine Stadt in Deutschland – abgesehen von Wolfsburg – dürfte so abhängig sein von einem Konzern wie die rheinische Großstadt mit ihren rund 160.000 Einwohnern, die sich neben einem künstlich angelegten Stadtkern vor allem auf eine Reihe von Dörfern verteilen. Fast in jeder Familie gibt es jemanden, der bei Bayer arbeitet. Und wer nicht selbst „beim Bayer schafft“, kennt mindestens eine Handvoll Leute, die es machen.

„Bayer ist die Stadt. Und nicht andersherum“, sagt Nadine Wegner (43), die zehn Jahre für den Konzern als Bürokraft gearbeitet hat. Das Unternehmen ist in der Stadt allgegenwärtig, unterstützt so ziemlich jede soziale und kulturelle Einrichtung in irgendeiner Form. Selbst auf der Geldkarte der Sparkassenkunden prangt gleich zweimal das Bayer-Symbol. „Es fehlt eigentlich nur noch, dass Bayer den Bürgermeister stellt“, sagt Wegner.

Den bevorstehenden Stellenabbau fürchtet besonders der Einzelhandel. „Es wird Kaufkraft verloren gehen“, sagt Petra Beck von der Bäckerei-Filiale Merzenich im Stadtzentrum. „Wenn das Geld knapper wird, trinkt man seinen Kaffee lieber zu Hause“, sagt die 67-Jährige, deren Ehemann bei Bayer gearbeitet hat. Man muss nur Bayer laut aussprechen, schon spitzen viele Gäste im Café die Ohren. Es sind vor allem Rentner, die an diesem Dienstagmorgen auf ein Brötchen mit Kaffee zu Merzenich gekommen sind. Und wie sollte es anders sein, hat jeder von ihnen auch eine Bayer-Vergangenheit.

Karl-Heinz Funk zum Beispiel. 41 Jahre lang hat er als Chemikant im Konzern gearbeitet. Jetzt genießt er seinen Ruhestand. Das mit den angeblichen Krebsrisiken von Produkten der Bayer-Tochter Monsanto sei schon eine üble Geschichte, sagt der 70-Jährige. Davon hätte man die Finger lassen sollen. Er wolle nicht wissen, was deshalb noch auf die Stadt zukomme, insbesondere, wenn Tausende ihre Jobs verlieren. Die Innenstadt sei ohnehin schon ab dem zehnten jeden Monats wie leergefegt. „Bis dahin reicht das Geld der Leute“, sagt er. Man müsse sich nur mal umgucken, wie es in der Stadt aussehe. Traurig sei das.

Schon jetzt stehen in der Innenstadt viele Geschäfte leer. Und sie werden es wohl auch bleiben. Neben schwindender Kaufkraft soll dafür auch die schmucke Rathaus-Galerie verantwortlich sein, ein Einkaufszentrum, wie man es aus vielen anderen Städten kennt. Aber es ist eines, auf das die Leverkusener durchaus stolz sind. „Das Problem daran ist nur, dass seitdem die Geschäfte drumherum kaputt gehen“, sagt Nadine Wegner, die fast neben dem Center wohnt. „Weite Teile der City sind deswegen schon zur Geisterstadt verkommen.“ Die 43-Jährige erzählt, sie werde häufiger gefragt, was ihr an Leverkusen gefalle. Viel falle ihr dann nicht ein. Eigentlich gar nichts. „Die Stadt ist einfach nur schäbig, hat keinen Flair und keinen Charme“, sagt sie. Nur wegen ihrer Familie und den Freunden wohne sie noch hier. Als Leverkusener habe man es nicht leicht. „Wenn man Auswärtigen sagt, dass man von hier kommt, wird man nur belächelt wegen des Fußballvereins“; sagt sie. „Über Bayer 04 machen sich andere nur lustig.“

Bei Aloysia Wehner müsste dringend das Dach erneuert werden. Es ist schon mehr als 100 Jahre alt. Aber die neuen Eigentümer der ehemaligen Bayer-Siedlung würden da nichts machen, sagt die 63-Jährige. Mit Bayer würde das anders laufen. Aber der Konzern habe sie und die anderen im Stich gelassen.

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