„Spaziergänge“ machen Polizei zu schaffen NRW befürchtet Eskalation bei Corona-Demos

Exklusiv | Düsseldorf · Landesweit hat es seit Mitte Dezember 722 Versammlungen mit Bezug zur Pandemie gegeben. Zu den Schwerpunkten gehören Düsseldorf, Köln und Wuppertal. Verfassungsschutz und Landesregierung erwarten weiteren Zulauf.

 Mit einem Plakat mit der Aufschrift „Die Regierung ist die Pandemie“ nehmen Gegner der Corona-Maßnahmen an einer Demonstration in Düsseldorf teil.

Mit einem Plakat mit der Aufschrift „Die Regierung ist die Pandemie“ nehmen Gegner der Corona-Maßnahmen an einer Demonstration in Düsseldorf teil.

Foto: dpa/Malte Krudewig

Die Sicherheitsbehörden in Nordrhein-Westfalen verzeichnen seit Dezember einen deutlichen Zuwachs der Versammlungen mit Bezug zur Corona-Pandemie. „Spätestens seit Ende Dezember 2021 sind die Teilnehmerzahlen deutlich gestiegen und haben die angemeldeten und erwarteten Zahlen zum Teil erheblich überschritten“, heißt es in einer Auswertung von Innenministerium und Verfassungsschutz für unsere Redaktion.

Demnach haben die landesweit 47 Kreispolizeibehörden dem Innenministerium vom 11. Dezember bis zum 7. Januar insgesamt 722 solcher Versammlungen gemeldet; darin enthalten sind 40 Gegendemonstrationen. Landesweit liegen die regionalen Schwerpunkte der Proteste in Aachen, Bielefeld, Düsseldorf, Köln, Paderborn, Recklinghausen und Wuppertal.

Den Angaben zufolge wächst der Anteil nicht angemeldeter Kundgebungen; das gelte insbesondere für die sogenannten Spaziergänge. Im Gegensatz zu vereinzelten Versammlungen im restlichen Bundesgebiet verlaufen die Demonstrationen in NRW bislang weitgehend friedlich. „Gleichwohl stellt die Polizei fest, dass einzelne Teilnehmer zuletzt zunehmend emotionalisiert und unkooperativ sind“, heißt es vom Verfassungsschutz.

Auch bundesweit seien eine deutliche Intensivierung des Versammlungsgeschehens und eine Emotionalisierung hin zur Aggression und Feindseligkeit festzustellen, sagte der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU). Er appellierte an die friedlich gesinnten Teilnehmer, klare Kante gegen Extremisten zu zeigen. „Distanzieren Sie sich unmissverständlich von geistigen Brandstiftern, von Extremisten, die ihr eigenes Süppchen kochen, ja sogar zur Gewaltausübung bereit sind. Halten Sie Abstand von solchen Demonstrationen! Und lassen Sie sich nicht vor deren Karren spannen“, sagte Strobl. Eine kleine, radikale Minderheit von sogenannten Querdenkern befinde sich in einer gefährlichen Radikalisierungsspirale: „Der Protest wird immer lauter, immer heftiger, immer brutaler.“

Das deckt sich mit den Erkenntnissen des NRW-Verfassungsschutzes. „Es wird zunehmend verbalaggressiver, was zukünftig in strafbares Verhalten bis hin zu Gewalttaten münden könnte“, heißt es in der Auswertung. Die Teilnehmer besäßen kein deckungsgleiches ideologisches Weltbild. Es handele sich um eine überaus heterogene Mischung von Corona-Leugnern, Impfverweigerern, Verschwörungsgläubigen, Esoterikern, vereinzelt bekannten rechtsextremistischen Personen und Menschen aus der bürgerlichen Mitte mit ideologisch schwer greifbaren Argumentationsmustern. „Insgesamt ergibt sich das Bild eines zersplitterten, fragmentierten und in sich nicht geschlossenen Corona-Protestmilieus mit einer teils widersprüchlichen politischen oder gesellschaftlichen Agenda“, konstatiert das NRW-Innenministerium.

Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Michael Mertens, hält die immer häufigeren „Spaziergänge“ für Etikettenschwindel. „Tatsächlich handelt es sich fast ausschließlich um im Internet verabredete, unangemeldete Versammlungen“, sagte er. Das sei komplett unnötig: „Wir sind ein Rechtsstaat – wer hier demonstrieren will, kann das tun“, sagte Mertens. Oliver Malchow, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, warnte vor einer Überlastung der Polizei durch die zunehmenden Proteste. „Es macht was mit dem Sicherheitsgefühl der Menschen, wenn die Polizei nicht sofort zur Verfügung steht, weil sie an anderer Stelle eingesetzt ist“, sagte er.

Die Sicherheitsbehörden in NRW gehen davon aus, dass es in den nächsten Wochen einen anhaltend hohen Zulauf für angemeldete und unangemeldete Demos geben wird. „Es muss damit gerechnet werden, dass auch die Radikalisierungstendenzen von Einzelpersonen oder Kleinstgruppen anhalten“, heißt es in der polizeilichen Lagebewertung. Die Zahl der Versammlungen werde stark von der Entwicklung der medizinischen Corona-Lage abhängen. Politische Entscheidungen könnten sowohl die Dynamik und Mobilisierung als auch die Emotionalisierung stark beeinflussen, so die Sicherheitsbehörden.

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