30. Jahrestag des Brandanschlags in Solingen „Unser Schmerz wird nie vergehen“

Solingen · Hatice und Kamil Genç verloren bei dem Brandanschlag auf ihr Haus in Solingen am 29. Mai 1993 ihre beiden Töchter. Im Gespräch zum Jahrestag ruft das Ehepaar zu Versöhnung auf, fordert aber auch entschiedeneres Eintreten gegen Rassismus.

Hatice und Kamil Genç haben bei dem Solinger Brandanschlag vor 30 Jahren zwei Töchter verloren. Insgesamt starben fünf Familienmitglieder.

Hatice und Kamil Genç haben bei dem Solinger Brandanschlag vor 30 Jahren zwei Töchter verloren. Insgesamt starben fünf Familienmitglieder.

Foto: dpa/Henning Kaiser

Der Schmerz wird niemals vergehen, sagt Hatice Genç. Auch wenn seit dem rassistisch motivierten Brandanschlag auf das Haus der türkischen Familie in Solingen 30 Jahre vergangen sind, schläft die 56-Jährige heute noch unruhig, wacht oft auf und denkt an ihre toten Kinder. Sie und ihr Mann Kamil verloren am 29. Mai 1993 ihre Töchter Hülya (9) und Saime (4), außerdem starben in der Brandnacht Kamils Schwestern Hatice (18) und Gürsün (27) sowie seine Nichte Gülüstan (12). 17 weitere Familienmitglieder erlitten zum Teil schwerste Verbrennungen. „Jedes Jahr durchleben wir unseren Verlust aufs Neue“, sagt Hatice Genç, „das wird nie vorbei sein. Wir können das nie vergessen.“

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Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

Zum 30. Jahrestag des Verbrechens erinnert die Stadt Solingen in großem Rahmen an die Verstorbenen. Zur zentralen Gedenkveranstaltung am Pfingstmontag hat sich auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier angekündigt, einen Tag zuvor wird der Mercimek-Platz in Mevlüde-Genç-Platz umbenannt. Kamil Gençs Mutter Mevlüde war Ende Oktober vergangenen Jahres gestorben, sie hatte sich trotz ihres Schicksals immer für gesellschaftliche Versöhnung und ziviles Engagement eingesetzt. Sohn Kamil und seiner Frau Hatice ist es wichtig, diesen Weg fortzuführen. „Wir hoffen, dass unsere Botschaft und die unserer Mutter dort ankommen, wo sie ankommen sollen“, sagt Kamil Genç, „wir wünschen uns ein friedliches Gedenken.“

Frieden statt Hass lautet die Botschaft der Familie, die trotz ihres erlittenen Leids immer wieder an die Öffentlichkeit geht, um die Erinnerung aufrechtzuerhalten. Sie und ihr Mann wollten ihren Beitrag dazu leisten, dass das, was ihnen widerfahren sei, nicht anderen zustoße, erklärt Hatice Genç, der das Gespräch darüber sichtlich schwer fällt. Sie und ihr Mann antworten auf Türkisch, ein Vertrauter der Familie, Harun Suratlı, übersetzt. Zwar sei ihre Familie seit der Brandnacht keinen rassistischen Anfeindungen mehr ausgesetzt gewesen, Freunde und Bekannte hätten aber andere Erfahrungen gemacht. „Wir können nur Friedensbotschaften vermitteln, aber das reicht offensichtlich nicht aus“, sagt Hatice Genç. „Die Politik ist gefragt, stärker und strikter gegen Rassismus vorzugehen.“

Auf die allgemeine Stimmungslage bezüglich fremdenfeindlicher Tendenzen im Land angesprochen, äußert sich das Ehepaar Genç eher pessimistisch. Bei ihnen herrsche das Gefühl vor, dass sich die Lage zum Schlechteren entwickelt habe, dass von staatlicher Seite zu wenig gegen rassistisch motivierte Gewalt unternommen werde. Sie ständen beispielsweise in engem Austausch mit Familien aus Hanau und Mölln, auch mit der Tochter von Mehmet Kubaşık aus Dortmund, der von der Terror-Gruppierung NSU getötet wurde. „Gerade im Zusammenhang mit der Aufklärung dieser Fälle hätten wir uns mehr Transparenz gewünscht“, sagt Kamil Genç.

Für die vier für den Brandanschlag verantwortlichen Täter aus Solingen, die zwar zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, aber schon lange wieder auf freien Fuß sind, empfindet Hatice Genç nur Verachtung. Sie akzeptiere zwar den juristischen Aspekt, sagt sie. „Wenn sie mich aber als Mutter fragen, habe ich kein Verständnis dafür, dass die Täter frei herumlaufen, während ich nachts nicht mehr ruhig schlafen kann“, sagt Hatice Genç. „Ich will nicht die Namen der Täter hören, ich will auch nicht über sie nachdenken. Denn dann rege ich mich auf. Darüber, dass sie frei sind, meine Kinder aber nie zurückkommen.“

Solingen zu verlassen, war trotz des schrecklichen Verbrechens nie eine Option für die Familie Genç. Die Stadt sei ihre zweite Heimat, das habe auch ihre Mutter Mevlüde stets betont. Dort wolle die Familie in Frieden leben. Damit bewusst ein Zeichen zu setzen, sich nicht vertreiben zu lassen, sei dabei niemals beabsichtigt gewesen, auch wenn diese Botschaft dadurch vermittelt werde. „Unsere beiden Söhne und damit unsere Familie haben hier eine Perspektive, deshalb kam es für uns nie in Frage, von hier wegzugehen“, sagt Hatice Genç. Stattdessen wolle sie alles daran setzen, die Erinnerung an die Opfer aufrechtzuerhalten. Sie erwarte, dass das Thema in Schulen und Büchern thematisiert werde, auch über ihre eigene Lebenszeit hinaus. „Der Brandanschlag darf niemals vergessen werden“, sagt Hatice Genç, „genauso wenig wie die Namen unserer Kinder.“

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