Straßenbahn fuhr führerlos durch Bonn „Geisterfahrt ist eine Katastrophe für die Stadtwerke“

Bonn · Nachdem die Geisterfahrt der Linie 66 in der Nacht auf Sonntag die Bonner aus ihrer Vorweihnachtsstimmung gerissen hat, wird jetzt die Bezirksregierung Düsseldorf als landesweit zuständige Technische Aufsichtsbehörde aktiv.

 Eine Straßenbahn der Linie 66 fährt in Bonn.

Eine Straßenbahn der Linie 66 fährt in Bonn.

Foto: dpa/Roberto Pfeil

Die beschlagnahmte Bahn, die in einem Betriebshof in Dransdorf steht, wird von einem Fachmann der Behörde untersucht.  „Wir machen uns ein Bild vor Ort“, erklärte Sprecherin Dagmar Groß. „Wir wollen der Staatsanwaltschaft Bonn jedoch nicht vorgreifen.“

Die Polizei befragte am Montag mehrere Zeugen, darunter auch zwei Passagiere, die sich bei der Behörde gemeldet hatten. Ein Video aus der Bahnkamera und ein elektronischer Fahrtenschreiber werden ausgewertet, so Polizeisprecher Robert Scholten. Die Bahn aus Richtung Siegburg fuhr nach Informationen des „Bonner General-Anzeigers“ maximal 50 Stundenkilometer schnell. Um 0.40 Uhr ging bei der Polizeileitstelle ein Notruf aus der Bahn ein; um 0.50 Uhr protokollierte die Leitstelle, dass sie zum Stillstand gekommen war. Sie hatte acht Haltestellen und mehrere Schranken passiert.

Zwei Fahrgäste hatten die Fahrerkabine aufgebrochen und nach Anweisungen aus der Stadtwerke-Leitstelle die Bahn zum Halten gebracht. Dem 47-jährigen Fahrer, der in seinem Sitz ohnmächtig geworden war, gehe es wieder besser, teilten die Stadtwerke am Montag mit. Ihm sei psychologische Hilfe angeboten worden.

„Wir tragen jetzt alle technischen Fakten und Zeugenangaben zusammen und tragen das Ergebnis der Staatsanwaltschaft vor“, erläuterte Scholten. Als möglicher Straftatbestand kommt in dem Verfahren beispielsweise „Gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr“ in Betracht. Scholten: „Die Ermittlungen hierzu können sich auch gegen den Fahrer richten.“ Die Polizei geht davon aus, dass ein medizinischer Notfall zur Bewusstlosigkeit des 47-Jährigen führte.

Manfred Daas, der mit seiner Frau im hinteren Wagen saß, ärgert sich über die Reaktion der Stadtwerke. „Die spielen alles herunter.“ Er und die anderen Passagiere im zweiten Wagen wären der Situation hilflos ausgeliefert gewesen, wenn im ersten keine Menschen gewesen wären. Er fragte: „Wie sieht es mit der Gesundheitsvorsorge der Fahrer der SWB aus, die jeden Tag Verantwortung für etliche 1000 Menschen haben?“ Im vorderen Wagen war Munir Kalaji der Erste, der bemerkte, dass der Fahrer nicht bei Bewusstsein war. Der Syrer warnte die anderen Gäste und kontaktierte die Polizei. „In Syrien habe ich dem Tod ins Auge geblickt. Hier war es knapp“, sagte er später.

Während der Fall untersucht wird, gibt es von vielen Seiten den Ruf nach Änderungen. „Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen“, sagte SPD-Ratsfrau Gabi Mayer, Mitglied im Aufsichtsrat Bus und Bahn der SWB. Bezüglich der Notbremsung werde „man zu einer anderen Lösung kommen müssen“. Den Vorfall, der bundesweit Schlagzeilen machte, nannte sie eine „Katastrophe für die Stadtwerke“.

Aufsichtsratskollege Rolf Beu (Grüne) forderte Richtlinien wie bei der Eisenbahn, wo der Zugführer alle 30 Sekunden eine gedrückte Taste loslassen müsse, weil sonst der Zug zwangsgebremst werde. „Es kann nicht hingenommen werden, dass bei Stadtbahnen – anders als im Eisenbahnverkehr – die Betätigung der Notbremse lediglich zum Alarmieren des Fahrers führt, aber nicht zum Abbremsen der Bahn“, betonte der Verkehrsexperte. Darüber hinaus müsse verhindert werden, dass Straßenbahnen rote Signale und geöffnete Schranken passieren können. Und auch der Sankt Augustiner SPD-Kreistagsabgeordnete Denis Waldästl pochte auf Konsequenzen. „Ich erwarte, dass die Geschäftsführung der SWB Bus und Bahn in der nächsten Sitzung des Planungs- und Verkehrsausschusses Erläuterungen zu dem Vorfall gibt und vor allem einen Notfallplan für die Zukunft vorstellt.“

Bei den Notbremsen halten sich die Stadtwerke Bonn an bundesweit geltende Regeln. Die Richtlinien sind in der Verordnung über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen (BOStrab) formuliert: „Die Betätigung dieser Einrichtungen darf auf Strecken ohne Sicherheitsraum und in Tunneln außerhalb von Haltestellen nicht zum Halten führen.“ In der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) liest man ähnliches. Stattdessen erhält der Fahrer ein Signal, wenn ein Fahrgast die Notbremse zieht, damit er reagieren kann. Nur in der unmittelbaren Nähe von Haltestellen stoppt die Notbremse den Zug sofort (bis acht Sekunden nach Abfahrt). In Zügen ist das laut EBO anders: Die bleiben grundsätzlich stehen, wenn die Notbremse gezogen wird.

Außerdem heißt es in der BOStrab auch: „Personenfahrzeuge müssen eine Sicherheitsfahrschaltung haben, die bei Ausfall des Fahrzeugführers eine Bremsung bis zum Stillstand bewirkt.“ Und die scheint bei der Linie 66 nicht funktioniert zu haben. Diesen „Totmannschalter“ muss der Straßenbahnfahrer gedrückt halten. „In den Bahnen der SWB Bus und Bahn sind jeweils zwei Schalter verbaut, einer wird mit der Hand, der andere mit dem Fuß betätigt“, erklärt SWB-Sprecherin Veronika John. „Welchen der beiden Schalter das Fahrpersonal nutzt, bleibt den Mitarbeitern überlassen. Aber einer der beiden muss dauerhaft gedrückt werden.“

Die SWB-Leitstelle konnte laut John nicht erkennen, dass die Bahn führerlos unterwegs war. „Im stellwerkstechnisch gesicherten Bereich zwischen Siegburg und Sankt Augustin Zentrum gab es keine Auffälligkeiten“, so die Sprecherin. „Außerhalb dieser Bereiche bekommt die Leitstelle keine Hinweise, dass der Fahrer oder das Fahrzeug sich ungewöhnlich verhalten.“  Erst durch einen Anruf der Polizei seien die Stadtwerke informiert worden. Die Leitstelle hätte auch den Fahrstrom wegnehmen und damit alle Bahnen im betroffenen Streckenabschnitt zum Stehen bringen können. John: „Die Variante, die Bahn mit Hilfe der Fahrgäste zu stoppen, war unter den gegebenen Umständen die schnellste.“

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