Vom Hausmeister zum Flüchtlingshelfer in Bonn „Plötzlich kannst du etwas tun“

Bonn · In einem alten Jesuiteninternat in Bonn sind mehr als 200 Geflüchtete aus der Ukraine untergekommen. Verantwortlich dafür: Hausmeister Igor Guseev und seine Frau Natalia. Als Helden sehen sich die Russlanddeutschen nicht.

Ein Hausmeister aus Bonn engagiert sich in der Flüchtlingshilfe. (Symbolbild)

Ein Hausmeister aus Bonn engagiert sich in der Flüchtlingshilfe. (Symbolbild)

Foto: dpa/Martin Schutt

Igor Guseev sitzt in der menschenleeren Mensa seiner Schule. Hier in Bonn, wo er als Hausmeister arbeitet, wandern seine Gedanken zurück zu jenem 24. Februar, als Russland die Ukraine überfiel. „Das Leben von gestern ist vorbei“, dachte der 47-jährige Russlanddeutsche damals. Auch für ihn persönlich hat sich seitdem viel verändert.

Denn wenige Tage später bekam er einen Anruf. Es meldete sich ein Freund, der aus der Ukraine stammt und in Köln wohnt. „Igor, hast du die Nachrichten gesehen?“, habe dieser gefragt. „Es sind zwei Busse voll mit Menschen unterwegs, die nicht wissen, wo sie hinsollen. Kannst du jemanden aufnehmen?“

Igor Guseev - ein eher zurückhaltender Mann in Handwerkermontur, mit rahmenloser Brille und ernstem Blick - spricht leise, wenn er von diesen Tagen erzählt. Aber eindringlich. Er habe erstmal nachdenken müssen. Der gelernte Industrieelektriker und seine Frau Natalia - im Jahr 2000 als Nachfahren deutscher Spätaussiedler aus dem russischen Sibirien nach Deutschland eingewandert - haben selbst acht Kinder. Da ist es nicht leicht, noch jemanden zusätzlich aufzunehmen.

In den Tagen darauf häuften sich die Anfragen. Da kam dem Hausmeister des Aloisiuskollegs, einer von drei Jesuitenschulen in Deutschland, eine Idee: Wie wäre es, all die leerstehenden Zimmer des aufgegebenen Internats der Schule zu nutzen? Er kontaktierte seinen Chef, Geschäftsführer Wolfgang Nettersheim, und den Rektor des Kollegs, Pater Martin Löwenstein. Sie sind diejenigen, die über eine Aufnahme zu entscheiden haben. „Sie sollen alle herkommen“, gab Nettersheim grünes Licht. Schon etwa drei Stunden später kamen die ersten zwei Busse an, vor allem Mütter mit Kindern. Überwiegend gehörten sie der Baptistengemeinde in Tschornomorsk nahe Odessa an. Auch Igor und Natalia Guseev sind Baptisten.

In den Folgetagen meldeten sich unablässig Menschen bei dem Hausmeister, die aus verschiedenen Landesteilen der Ukraine flohen. Seine Telefonnummer hat inzwischen die Runde gemacht. Jeden Tag habe Guseev seinen Chef gefragt: „Wie sieht's aus, können noch 60 mehr kommen? Noch 20 mehr?“ Vier Wochen lang seien täglich Menschen angekommen, tags wie nachts - bis das Internatsgebäude mit seinen 180 Plätzen voll war. Als einziger, der am Kolleg Russisch und Ukrainisch versteht, legte sich der Hausmeister prompt eine Matratze in sein Büro - jemand habe die Frauen, Männer und Kinder ja in Empfang nehmen müssen, sagt er. Auch Geschäftsführer Nettersheim und Verwaltungschefin Daniela Ulbrich seien oft nachts gekommen, um mit anzupacken.

Die ersten sechs Monate seien intensiv gewesen. Überfordernd, manchmal. Aber oft auch lustig und interessant. Seine Frau korrigiert: „Manche Momente waren lustig, aber insgesamt war's nicht lustig.“ Um alles zu organisieren, hockten sie mal eine, mal drei Stunden täglich in einem kleinen Team zusammen - teils auch mit den Ukrainern, um zu erfahren, was die Familien brauchen.

„Ab und zu wusste ich nicht mehr genau, wie mein Beruf heißt“, meint Igor Guseev amüsiert. Seit über einem halben Jahr kümmert er sich nicht nur um das Areal, er ist auch Krankenbetreuer, Übersetzer, Sozialarbeiter, sogar Arzthelfer. Bei einer ukrainischen Ärztin sei er als „Azubi“ mitgelaufen, habe von ihr gelernt, um danach selber Menschen verarzten zu können.

Klar trennen lassen sich seine Rollen kaum. Wenn Guseev als Hausmeister die Zimmer der Menschen betritt, um etwa ein Fenster zu reparieren, kommt es häufiger vor, dass diese gerade im Fernsehen das Kriegsgeschehen verfolgen. Dann hört er schon mal Sätze wie diesen: „Guck mal, Igor, meine Schule wurde von einer Bombe getroffen und zerstört.“ Natürlich gehe das nicht an ihm vorbei, dann sei er für sie da.

Auch Natalia Guseev hat sich von Beginn an eingebracht: Sie begleitete Menschen zum Arzt, zum Jobcenter, half ihnen mit Formularen - unbezahlt. Auch ihr ältester Sohn Ilia habe geholfen, erzählt sie stolz. Er studiert Sozialpädagogik. Ein Familienunternehmen, sozusagen? Sie lacht. Inzwischen ist die 46-Jährige offiziell als Sozialarbeiterin angestellt.

Einmal im Monat organisiert sie ein Frauentreffen, bei dem geredet, Tee getrunken, die Bibel gelesen und gebetet wird. Egal ob die Teilnehmerinnen evangelisch, russisch-orthodox oder atheistisch sind, alle sind willkommen.

Ihr russischer Hintergrund spiele zwischen ihnen und den ukrainischen Geflüchteten keine Rolle. Ohnehin ist dem Ehepaar nach Jahrzehnten in Deutschland ihre frühere Heimat fremd geworden. Die letzten Besuche empfanden sie wie einen Kulturschock. „Probleme haben wir eher mit russischen Bekannten, die den Krieg unterstützen“, sagt Igor Guseev: „In ihren Augen sind wir Verräter.“

Die Frage nach ihrer Motivation zu helfen macht die beiden stutzig. „Wir sind Christen, wir helfen den Leuten gerne. Nur unsere Familie und das war's, wir hören nix und wir wissen nix - das geht nicht“, sagt Natalia Guseev.

Besonders heldenhaft finde er das nicht, betont ihr Mann. „Das waren doch nur ein paar Wochen, die ich im Büro geschlafen habe“, wiegelt er ab. Einen Brief übersetzen, das dauere fünf Minuten. „Du lebst und lebst und lebst, gestern ist wie heute - und plötzlich kannst du etwas tun.“ Respekt verdienen in seinen Augen die Ukrainer. „Die waren unter Bomben, die haben unter riesiger Gefahr ihre Kinder rausgeholt. Wir sind keine Helden. Unser Haus steht ja.“

(kag/kna)
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