Offener Vollzug In NRW werden Häftlinge zu Nachbarn

Bielefeld · Eine Haftstrafe zu verbüßen heißt nicht zwangsläufig, dass man hinter dicken Mauern landet. Im offenen Vollzug haben Gefangene ganz andere Freiheiten. NRW ist bei dieser Haftform Vorreiter – und hat die größte deutsche Anstalt dieser Art.

 Diese beiden weiblichen Häftlinge dürfen das Gefängnis zum Arbeiten verlassen und kehren nach Feierabend in die JVA zurück.

Diese beiden weiblichen Häftlinge dürfen das Gefängnis zum Arbeiten verlassen und kehren nach Feierabend in die JVA zurück.

Foto: dpa, frg

Eine Haftstrafe zu verbüßen heißt nicht zwangsläufig, dass man hinter dicken Mauern landet. Im offenen Vollzug haben Gefangene ganz andere Freiheiten. NRW ist bei dieser Haftform Vorreiter — und hat die größte deutsche Anstalt dieser Art.

Keine hohe Mauer umgibt das Haupthaus von Deutschlands größtem Gefängnis. Eine Pforte statt einer Sicherheitsschleuse ermöglicht das Kommen und Gehen, Gitter vor den Fenstern gibt es nicht. Viele Inhaftierte tragen die elektronischen Schlüssel für ihre Zellen selbst bei sich. Am Schwarzen Brett hängt ein Busfahrplan.

Deutschlands nach Haftplätzen größte Justizvollzugsanstalt (JVA) mit Zentrale in Bielefeld-Senne ist eine Anstalt des offenen Vollzugs. Zwei Hafthäuser und 16 wie kleine Satelliten über ganz Ostwestfalen verteilte Außenstellen haben Platz für 1645 Gefangene, die sich während ihrer Haftzeit ganz andere Freiheiten erwerben können als hinter Schloss und Riegel des geschlossenen Vollzugs.

Anstaltsleiterin Kerstin Höltkemeyer-Schwick führt gerne durch die Räume, will werben für einen aus ihrer Sicht zeitgemäßen Umgang mit Straftätern. "In den Köpfen vieler stecken noch Vorstellungen von Wasser und Brot, von Schließern und einer Law-and-Order-Stimmung, die mit unserem heutigen Strafvollzug nichts mehr zu tun hat", sagt sie.

Regeln gibt es aber natürlich auch hier: Die Zellen müssen ordentlich sein, die Häftlinge müssen sich an die Pflichten des Zusammenlebens halten, arbeiten gehen. Drogen, Alkohol und Handy sind tabu. Je besser sie sich an die Regeln halten, desto mehr Freiheiten gibt es — angefangen mit begleiteten Ausgängen bis hin zur Möglichkeit, über Nacht bei der Familie zu bleiben.

"Damit stärken wir die Eigenverantwortung und bauen eine bessere Brücke zurück in ein selbstständiges Leben." Wem ab wann welche Privilegien zuteil werden, entscheidet das Gefängnis nach intensiven Gesprächen. Gefragt nach prominenten Freigängern wie dem ehemaligen Topmanager Thomas Middelhoff, der ebenfalls in Senne untergebracht ist: "Prominenz ist für uns kein Faktor, sondern rein die Frage, ob der Inhaftierte mit den Freiheiten umgehen kann."

Aus Sicht des Justizministeriums ist der offene Vollzug schon seit Jahrzehnten tragender Pfeiler der Bemühungen, Gefangene möglichst gut wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Das zeigen auch Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Sind in einigen ostdeutschen Ländern und Bayern nur wenige Gefangene — 6,5 Prozent — im offenen Vollzug untergebracht, ist es in NRW mehr als jeder vierte Inhaftierte (28 Prozent). Davor liegt nur Berlin mit mehr als 30 Prozent.

"Nordrhein-Westfalen und Berlin gehören seit Jahrzehnten zu den Vorreitern, was offenen Vollzug betrifft", sagt Frieder Dünkel. Der Kriminologe und Strafvollzugs-Experte betont, wie wichtig offene Unterbringungsformen für die Wiedereingliederung sind. Es gebe Hinweise, dass die Menschen seltener wieder straffällig würden:
"Untersuchungen haben gezeigt, dass quer durch alle Straftaten die Rückfallquoten um etwa 10 Prozent sinken können", sagt er.

Zu glauben, man könne Menschen einfach wegstecken und sie besserten sich, sei Unsinn. "Auch Gewalttäter werden nach Verbüßung der Strafe unter uns leben und unsere Nachbarn sein. Darauf müssen sie in überleitungsorientierten Maßnahmen wie dem offenen Vollzug vorbereitet werden", sagt Dünkel.

Das gilt in Bielefeld unter anderem für einen 38-jährigen Häftling aus Essen. Er verbüßt nach schwerem Diebstahl seit zwölf Monaten eine Haftstrafe, die sich nun dem Ende nähert. Mit Frau und Sohn will er bald ein neues Leben anfangen, in Ostwestfalen, fernab der alten Milieus und Kontakte im Ruhrgebiet. "Das ist jetzt echt ein Neustart", sagt er. Der offene Vollzug ermögliche es ihm, das Leben in Freiheit vorzubereiten. Eine Wohnung ist gefunden, der Job, um sie zu bezahlen, auch: Bei seinem von der JVA vermittelten Arbeitgeber hat er sich so bewährt, dass er nicht mehr nur von der JVA als Helfer ausgeliehen wird, sondern seinen eigenen Arbeitsvertrag hat, ganz wie seine Kollegen.

90 Prozent der Gefangenen in der JVA Senne arbeiten täglich für eines der 385 Unternehmen, mit denen das Gefängnis kooperiert - vom ostwestfälischen Weltkonzern bis zum kleinen Handwerksbetrieb. Gerade als Industriehelfer seien die meist motivierten Häftlinge gefragt — entweder um Spitzen abzudecken oder auch, um eine Arbeitskräftelücke langfristig zu füllen. Davon profitieren am Ende auch Land und Steuerzahler: Im Jahr 2014 erwirtschaftete die JVA fast zehn Millionen Euro über Lohneinnahmen.

Und was, wenn doch mal etwas schiefgeht? "Die Zahl der Entweichungen ist minimal", sagt Höltkemeyer-Schwick. 2015 kehrten 86 Gefangene nicht freiwillig oder rechtzeitig zurück — von 92.463 Gefangenen auf Ausgang. "Dieses Restrisiko müssen wir tragen", sagt sie. "Und das muss auch die Gesellschaft tragen."

(dpa/jeku)
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