Ausstellung „Survivors“ in Essen „Menschen, die in die Hölle gestoßen wurden“

Essen · Der Fotograf Martin Schoeller hat Überlebende des Holocaust porträtiert. Seine Bilder sind nun in Essen ausgestellt. Auch die Kanzlerin sah sich die Ausstellung an.

Essen: Ausstellung „Survivors - Faces of Life after the Holocaust“
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Ausstellung „Survivors - Faces of Life after the Holocaust“ in Essen

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Foto: dpa/Rolf Vennenbernd

Es war der Besuch von Naftali Fürst, der einem in Erinnerung bleiben wird. Fürst war am Dienstagmorgen vom Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv aufgebrochen, mittags in Düsseldorf gelandet und am frühen Nachmittag am Welterbe Zeche Zollverein in Essen eingetroffen. Er hatte seine Tochter und zwei Enkelkinder mitgebracht, und er war gekommen, um zu erzählen von dem, was ihm widerfahren war.

Naftali Fürst, Jahrgang 1932, ist einer der letzten lebenden Zeugen des Holocaust. In Bratislava in der Tschechoslowakei geboren, waren er und seine Familie ins Konzentrationslager Sered’ gebracht worden. Von dort aus war Fürst ins Vernichtungs­lager Auschwitz-Birkenau deportiert und schließlich als Zwölfjähriger auf einen der Todesmärsche zum Konzentrationslager Buchenwald geschickt worden. Fortan habe er im Schatten der Schoah gelebt, erzählt er. „Ich erinnere mich an die Häftlinge, die auf dem Todesmarsch zusammenbrachen und von der SS erschossen wurden.“

Naftali Fürst überlebte. Er ist einer jener 75 Menschen, die der Fotograf Martin Schoeller anlässlich der Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren porträtiert hat. Am 27. Januar 1945 erreichten Soldaten der Roten Armee das Lager.

Martin Schoeller ist weltberühmt für seine Nahaufnahmen von Prominenten. Er hat Schauspieler George Clooney, Popstar Rihanna und den früheren US-Präsidenten Barack Obama ins Bild gesetzt. Nun hat er in Kooperation mit der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Überlebende der Schoah fotografiert. Schoah, so wird die Massenvernichtung der Juden im Hebräischen genannt.

Essen: Angela Merkel eröffnet Survivors-Ausstellung in Zeche Zollverein
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Bundeskanzlerin Merkel eröffnet „Survivors“-Ausstellung in Essen

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Foto: AP/Martin Meissner

Yad Va­shem hat nach Israel ausgewanderte Überlebende kontaktiert, Schoeller hat sie in Jerusalem getroffen. Die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit sind jetzt in der Mischanlage des ehemaligen Steinkohlebergwerks Zeche Zollverein zu sehen, und damit auf einem Gelände, das gleichfalls historisch belastet ist. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden dort Kriegsgefangene zur Schwerstarbeit gezwungen.

„Survivors“ – Überlebende – heißt die Ausstellung, die nach Essen um die Welt touren wird. Fotograf Schoeller hat die Menschen dafür, wie man es von seinen Bildern kennt, aus nächster Nähe fotografiert. In der Schau sieht man sie im Großformat vom Hals aufwärts bis zu den Haarspitzen. Man sieht jede Furche, jede Falte, jedes Fleckchen, das das Alter mit sich bringt. Man sieht den Überlebenden in die Augen, nichts versperrt die Sicht. Natürlich löst das Reflexe aus, während man die Gesichter studiert, sie zu lesen versucht. Wird man Spuren des Erlebten entdecken können? Wirken die Menschen besonders traurig oder entschlossen? Schoeller selbst verwahrt sich gegen die Zuschreibung, seine Arbeiten würden das Seelenleben eines Menschen offenlegen. Man sieht ihnen ja wirklich nur vor die Stirn.

Der Wert der Arbeit liegt darum zum einen in der Verbindung zu den Geschichten, denen Schoeller mit seiner neuen Reihe Gesichter gibt. Deshalb sollte man sich unbedingt auch ein Video ansehen, das Teil der Ausstellung ist und die Begegnungen des Fotografen mit den Porträtierten dokumentiert. Zum anderen liegt das Besondere der Bilder darin, dass der Fotograf die Überlebenden in ihrer Einzigartigkeit abbildet. Schoellers Formstrenge macht das Individuum sichtbar. Es waren Menschen, die von den Nazis verfolgt wurden. Sechs Millionen Juden wurden ermordet – das ist eine schier unfassbare Zahl.

Nach Deutschland gekommen war der Überlebende Naftali Fürst übrigens mit einem Flugzeug der Luftwaffe. „Das ist unglaublich. Der kleine Junge vom Todesmarsch nun in einer deutschen Militärmaschine auf dem Weg zur Kanzlerin“, sagte der heute 87-Jährige auf dem Flug zu Journalisten. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war ebenfalls zur Ausstellungseröffnung nach Essen gekommen. „Ich empfinde tiefe Scham angesichts des Leids, das Ihnen zugefügt wurde“, richtete sie sich zu Beginn ihrer Rede an Fürst. „Niemand kann das Leid ermessen, außer den Menschen, die in diese Hölle gestoßen wurden.“

Merkel erinnerte an das „freundschaftliche Band“ zwischen Israel und Deutschland, und sie mahnte zur Zivilcourage gegen Antisemitismus und Rassismus. So sei auch jedes Porträt in der Ausstellung eine Mahnung, für Menschlichkeit einzutreten, „eine Mahnung, im Alltag nicht zu schweigen und wegzuschauen, wenn jemand angegriffen, gedemütigt und in seiner Würde verletzt wird“. Es sei „ein Skandal“, dass in Deutschland immer noch jüdische Einrichtungen geschützt werden müssten, sagte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU).

Laschet mahnte zugleich, Erinnerung nicht als etwas Rituelles zu pflegen. „Ich bin allen Überlebenden, die die Kraft aufbringen, die Erinnerung wachzuhalten, unendlich dankbar“, sagte Bundeskanzlerin Merkel. Tatsächlich gehören die von Martin Schoeller fotografierten Menschen zu den letzten Überlebenden; sie sind in den 1920er und 1930er Jahren geboren, waren Kinder und Jugendliche, als sie von den Nazis verschleppt wurden. Es stellt sich deshalb die Frage, wie erinnert werden wird, wenn die Zeitzeugen tot sind. Die Geschichten müssten bewahrt und erzählt werden, meint Kai Diekmann, früherer „Bild“-Chefredakteur und Vorsitzender des deutschen Freundeskreises von Yad Vashem. Martin Schoellers Bilder werden dazu einen Beitrag leisten.

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