Auschwitz-Prozess in Detmold "Bitte reden Sie!"

Detmold · Am ersten Verhandlungstag des Auschwitz-Prozesses in Detmold schweigt der ehemalige KZ-Wachmann Reinhold Hanning – trotz der Bitte eines Zeugen.

 Reinhold Hanning blickte während des Prozesses stets starr nach unten.

Reinhold Hanning blickte während des Prozesses stets starr nach unten.

Foto: dpa, pil

Am ersten Verhandlungstag des Auschwitz-Prozesses in Detmold schweigt der ehemalige KZ-Wachmann Reinhold Hanning — trotz der Bitte eines Zeugen.

Es ist ein bezeichnender Moment, als der Angeklagte den Sitzungssaal betritt. Der Tumult der rund hundert Pressevertreter und Besucher erstickt mit einem Mal in gespenstische Stille. Leicht gebückt, den Kopf gesenkt, schreitet Reinhold Hanning von den beiden Verteidigern und seinem Sohn umringt sehr langsam nach vorne. Minutenlanges Kameraklicken. Sein Blick geht starr zu Boden, nicht nach rechts oder links, als wolle er das alles nicht sehen. Nicht gesehen werden.

Aber er ist da; 94 Jahre alt, Wohnhaft in Lage im Kreis Lippe, Witwer — und von Januar 1943 bis Juni 1944 Mitglied der SS-Wachmannschaft im Konzentrationslager Auschwitz. Vorwurf: Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen. 38 Nebenkläger aus Ungarn, Israel, den USA, Kanada, Großbritannien und Deutschland beteiligen sich. Als einer der letzten großen Auschwitzprozesse 70 Jahre nach Ende der NS-Gewaltherrschaft begann die Hauptverhandlung am Donnerstag vor dem Landgericht Detmold. Zwölf Verhandlungstage sind angesetzt, wegen des gesundheitlichen Zustands des 94-Jährigen allerdings nur je zwei Stunden.

"Doch alle ein Rädchen im Getriebe"

 Der Auschwitz-Überlebende Leon Schwarzbaum.

Der Auschwitz-Überlebende Leon Schwarzbaum.

Foto: dpa, bt pil

Zumindest am ersten Tag ist das Interesse immens, früh morgens stehen Kamerateams, Reporter und Anwohner Schlange. Hanning wohnt bis heute im zehn Kilometer entfernten 36.000 Einwohner-Ort Lage. Nachdem er im SS-Totenkopfsturmbann die Gefangenen bewacht, aber auch an der Rampe empfangen und für die Vergasung selektiert haben soll. "Menschen wie er waren doch alle ein Rädchen im Getriebe, damit die Mordmaschinerie funktionierte", sagt eine Anwohnerin, Jahrgang 1949. Sie ist Teil der Initiative "Gegen das Vergessen", die mit Plakaten, Flyern und ihrer Anwesenheit gegen eben jenes demonstrieren. Andere sind skeptisch, wollen sich nicht äußern. "Ich bin mit gemischten Gefühlen gekommen", sagt ein 75-Jähriger, der selbst seinen Vater im Krieg verlor. "Das ist alles grausam, ja. Aber er ist ein alter Mann. Ich habe schon Mitleid irgendwie."

Nun sitzt dieser alte Mann gekrümmt, regungslos und kaum sichtbar zwischen seinen beiden Verteidigern. Richterin Anke Grudda kündigt an, die Anklageschrift verlesen zu lassen, "und dann können wir über alles reden, Herr Hanning, wenn Sie mögen." Aber er mag nicht. Er blickt zu Boden, während Oberstaatsanwalt Andreas Brendel den 60-seitigen Text vorliest. Ein 30-minütiger Schnelldurchlauf der größten Grausamkeiten von Auschwitz: Der völlig menschenunwürdige Transport, die absolut willkürliche Auswahl, wer direkt stirbt und wer sich im Lager auf Raten zu Tode arbeiten durfte. Die Todesarten. Wie man die durch Zyklon B erstickten Leichen in den Waschräumen fand, rosafarbene Haut mit grünen Punkten und Schaum vorm Mund oder blutenden Ohren. Wie SS-Wächter Kinder lebendig in die Todesgrube warfen und verbrannten. Bei all dem: keine Regung. Hanning harrt aus.

Hanning gibt keinen Kommentar ab

"Der Angeklagte wird sich nicht äußern", lässt er seine Verteidigung anschließend ausrichten. "Zumindest nicht derzeit." Seine Mittäterschaft, seine Schuld, überhaupt seine Tätigkeit bei der SS wird nicht kommentiert. Auch das Verhör der Polizei, die überraschend im Herbst 2015 bei Hanning auftauchte, soll nach Wunsch der Verteidigung vor Gericht nicht verwertet werden. Er sei damals gerade von einer vierstündigen Arztbehandlung gekommen und außerdem nicht ordentlich belehrt worden. Was Hanning damals den Beamten überhaupt Verwertbares zu den Vorwürfen gesagt haben könnte, verriet sein Anwalt nicht.

Kann man Reinhold Hanning, dieses kleine Rädchen der NS-Maschinerie des Massenmords, denn verurteilen? Nach jetziger juristischer Auffassung schon, erklärt Werner Renz vom Frankfurter Fritz-Bauer-Institut, das die Geschichte und Wirkung des Holocaust insbesondere anhand der Auschwitzprozesse dokumentiert. Man muss ihm keine konkrete Tat nachweisen. Es reicht die Tatsache, dass er Wachdienst geleistet hat. "Selbst Bereitschaftsdienst gilt als Beihilfe zum Mord, er muss nicht selbst die Menschen an der Rampe in den Tod geschickt oder gar erschossen haben", sagt Renz. Diese Rechtauffassung habe es nach Kriegsende bis 1965 gegeben, danach habe man Morde direkt nachweisen müssen. Die Justiz? Jahrzehnte untätig. Erst der Fall John Demjanjuk 2011 am Landgericht München gab Anstoß, auch Mittäter (wieder) zur Rechenschaft zu ziehen.

"Bitte reden Sie!"

So wie Oskar Gröning, der als einer der ersten ehemaligen SS-Wärter bei seinem Prozess im Juni 2015 öffentlich Reue zeigte und sich bei den Opfern entschuldigte. "Eine lobenswerte, vorbildhafte Haltung gegenüber unserer Gesellschaft", meint Historiker Renz. Reinhold Hanning aber schweigt. Selbst als der Auschwitzüberlebende Leon Schwarzbaum in den Zeugenstand tritt, mit zitternder Stimme von seiner Vertreibung aus Polen, den 35 ermordeten Familienmitgliedern und seiner Zeit im KZ berichtet. Wie er als Laufbursche im Lager überleben konnte und fast verhungerte, weil es nur Kartoffelschalen gab. Dass die SS-Wächter die erschossenen Leichen auf Stühle setzten, zur Abschreckung für jene, die fliehen wollten. Dass er immer noch nachts davon träumt, wie die nackten Menschen auf den Transportern um ihr Leben schrien.

Warum mussten all diese Menschen sterben? Was haben Sie getan? "Herr Hanning", erhebt Schwarzbaum seine Stimme mit letzter Kraft, "wir sind beide 94 Jahre alt und müssen bald vors Höchste Gericht. Bitte reden Sie!" Die Verteidiger beantragen eine Unterbrechung, Hanning müsse auf die Toilette. Die Verhandlung wird am Freitag weitergeführt. Reinhold Hanning wird da sein, nichts sagen müssen, aber zuhören, immerhin.

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