Schwerer Fall von Freiheitsberaubung in Attendorn Wenn Kinder von der Welt isoliert werden

Attendorn · Ein achtjähriges Mädchen soll fast sein gesamtes Leben lang in einem Haus festgehalten worden sein. Ein Sprecher des Deutschen Kinderhilfswerks sieht darin eine massive Missachtung der Rechte des Kindes und erklärt, worin der eigentliche Schaden für das Mädchen liegen könnte.

 Ein Polizist mit Handschellen und einer Pistole am Gürtel steht vor einem Streifenwagen (Symbolbild).

Ein Polizist mit Handschellen und einer Pistole am Gürtel steht vor einem Streifenwagen (Symbolbild).

Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Im sauerländischen Attendorn soll es zu einem schweren Fall von Freiheitsberaubung gekommen sein. Ein acht Jahre altes Mädchen soll nahezu sein gesamtes Leben lang in einem Haus festgehalten worden sein. Die Staatsanwaltschaft in Siegen ermittelt gegen die Mutter des Kindes und die Großeltern. Das sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft Patrick Baron von Grotthuss am Samstag.

Noch sind die genauen Hintergründe unklar, doch auch wenn das Kind scheinbar nicht körperlich misshandelt wurde, so handelt es sich bei einer solchen Freiheitsberaubung schon um eine massive Einschränkung der Rechte des Kindes. Das sagte Uwe Kamp, Sprecher des Deutschen Kinderhilfswerkes, unserer Redaktion. „Kinder haben das Recht, gesund und geschützt aufzuwachsen, sodass sie beteiligt werden und in ihrer Entwicklung nicht gefährdet sind. Wenn ein Kind nie Kontakt zur Außenwelt hat, dann ist das aber kaum möglich“, so Kamp. Ein Kind brauche die Möglichkeit zu lernen und seine Umwelt wahrzunehmen. „Normalerweise erfährt ein Kind millionenfache Ansprachen von außen, durch die Umgebung, durch Gleichaltrige, aber auch durch den Kontakt mit Fremden. Das ist wichtig für eine gesunde Entwicklung“, so der Sprecher.

Man gehe im Fall in Attendorn davon aus, dass die Großeltern und die Mutter des Mädchens dem Kind nicht ermöglicht hätten, „am Leben teilzunehmen“ - nicht am Kindergarten, nicht an der Schule und nicht am Spiel mit anderen Kindern. Das Mädchen habe mutmaßlich knapp sieben Jahre lang in dem Haus der Großeltern im Ort Attendorn gelebt, ohne es verlassen zu dürfen. Mehrere Medien hatten über den Fall berichtet.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft soll die Mutter beim Jugendamt einst angegeben haben, dass sie samt Kind nach Italien umziehe. Das Jugendamt habe dann allerdings Hinweise erhalten, dass sich das Kind gar nicht dort aufhalte. Italienische Behörden hätten anschließend bestätigt, dass Mutter und Kind nicht vor Ort seien - und wohl auch nie dort gewesen seien.

Daher sei das Jugendamt mit der Polizei im September an dem Haus vorstellig geworden. „Man musste mit richterlichem Beschluss rein“, erklärte Oberstaatsanwalt Baron von Grotthuss. Beamte hätten erzählt, dass ihnen das Kind - es sei nun fast schon neun Jahre alt - dann auf der Treppe entgegen gekommen sei.

Der Fall zeige laut Kamp aber auch, wie wichtig gut funktionierende Kinder- und Jugendhilfestrukturen seien. „Es muss umfassend geklärt werden, warum anscheinend Hinweisen des Vaters gegenüber dem Jugendamt nicht ausreichend nachgegangen wurde, der die Mutter bereits im Jahre 2015 mehrfach in Attendorn gesehen hatte“, so Kamp Zudem solle es weitere anonyme Hinweise gegeben haben, die nicht dazu geführt haben, das Mädchen zu befreien. „Es ist tragisch, dass es der Mutter und den Großeltern gelungen ist, das Mädchen komplett vom Radar der bundesdeutschen Behörden verschwinden zu lassen. Hier muss geschaut werden, an welchen Stellen die Arbeit insbesondere der Jugendämter verbessert werden muss, um solche Fälle in Zukunft zu verhindern“, sagt der Sprecher des Deutschen Kinderhilfswerkes.

Generell hätten Jugendämter in Deutschland oft mit einer Reihe von Strukturproblemen zu kämpfen. Kamp spricht hier von einer oft hohen Arbeitsbelastung und zu wenig Ressourcen um Hinweisen auf Kindeswohlgefährdungen mit der gebotenen Zeitintensität nachzugehen. Zudem müssten die Jugendämter immer die im Grundgesetz normierte starke Stellung der Eltern im Auge behalten, wenn es um Kinderschutzmaßnahmen geht. „Deshalb fordert das Deutsche Kinderhilfswerk seit vielen Jahren die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz, um den Kinderschutz, aber auch die Rechte von Kindern generell zu stärken“, so Kamp.

Die Hintergründe des Falls sind noch völlig unklar. Mutter und Großeltern machen nach Angaben der Ermittler von ihrem Recht zu schweigen Gebrauch. Daher tappe man noch im Dunkeln, „was da möglicherweise in den Köpfen der Menschen vorgegangen ist“, wie Baron von Grotthuss sagte. Attendorn liege auf dem Land. „Man denkt ja, die Sozialkontrolle funktioniert da noch“, sagte er. Aber selbst die Nachbarn hätten nicht gewusst, dass Mutter und Kind im Haus gewesen seien. Deshalb betont auch Kamp, wie wichtig es im Umfeld von Kindern sei, aufmerksam zu bleiben und jeden Verdacht auf Kindeswohlgefährdung an die Behörden weiter zu geben. „Hier darf es kein Wegschauen und Weghören geben“, sagt Kamp.

Das Mädchen sei nun in einer Pflegefamilie. Hinweise auf eine körperliche Misshandlung oder Unterernährung gebe es momentan nicht. „Allerdings haben wir die Situation, dass es die Außenwelt nicht gesehen hat“, sagte Baron von Grotthuss. Die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen.

(felt/lils/dpa)
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