Apotheker-Prozess Diese neun Vorwürfe macht eine Betroffene den Ermittlern

Essen/Bottrop · Im Prozess um gepanschte Krebsmedikamente platzt einer betroffenen Patientin der Kragen. Der Staatsanwaltschaft wirft sie schwere Versäumnisse vor. Wir haben überprüft, was an den Vorwürfen dran ist.

 Angelika Fischer (63) mit ihrem Mann Hans-Jürgen vor der Apotheke, die Peter S. in Bottrop führte (Archivfoto).

Angelika Fischer (63) mit ihrem Mann Hans-Jürgen vor der Apotheke, die Peter S. in Bottrop führte (Archivfoto).

Foto: Andreas Endermann

Der Ton wird rauer im Prozess gegen Peter S., den Apotheker aus Bottrop, der systematisch Krebsmedikamente unterdosiert haben soll. Der Nebenklage-Anwalt Khubaib-Ali Mohammed warf den Ermittlern am Donnerstag "komplettes Versagen" vor. Die Staatsanwaltschaft habe eine "unheimlich schlechte Anklageschrift" fabriziert und sei "nicht fähig, am richtigen Gericht anzuklagen". Hintergrund: Der Fall wird als Wirtschaftsstrafsache behandelt, als Kassenbetrug um 56 Millionen Euro. Jetzt legt eine der mutmaßlich Betroffenen nach — in Form eines Offenen Briefs an die Staatsanwaltschaft Essen, der es in sich hat.

Tiefer Frust lässt sich aus den Zeilen von Angelika Fischer (63) aus Dorsten und ihrem Anwalt Marcus Hochheimer herauslesen. Neun Hauptvorwürfe umfasst das Schreiben, das die Absender als "Mittel der konstruktiven Kritik" verstanden wissen wollen.

Fischers größter Kritikpunkt: Angeklagt ist S. lediglich wegen Kassenbetrugs, Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz sowie einigen wenigen Fällen von versuchter Körperverletzung. Wegen Kapitaldelikten wie etwa versuchter Tötung muss er sich derzeit nicht verantworten.

Die Staatsanwaltschaft betont auf Anfrage, den Nachweis eines Todesfalls durch eine Chemotherapie mit zu wenig oder gar keinem Wirkstoff halte man für "nicht möglich". Grund: "Es ist kein Muster feststellbar, nach dem der vorhandene Wirkstoff auf die verschiedenen Infusionen verteilt worden sein könnte." Dass einzelne Patienten über die gesamte Behandlungsdauer hinweg "überhaupt keinen Wirkstoff bekommen haben", halte man für "unwahrscheinlich". Das bloße "Auslassen" einzelner Infusionen aber hätte, so die Staatsanwaltschaft, laut Onkologen "sicherlich nicht den (vorzeitigen) Tod des Patienten verursachen können". Mehr noch: Es habe "in aller Regel" überhaupt "keine gesundheitlichen Auswirkungen". Die Nebenkläger bezweifeln das massiv.

Michael Heghmanns, Professor für Strafrecht an der Universität Münster und Richter am dortigen Landgericht, erklärt: "Dass Patienten tatsächlich wegen der Unterdosierung ihrer Medikamente zu Tode gekommen sind, erscheint schon statistisch sehr wahrscheinlich. Juristisch relevant sind allerdings nur ganz konkrete Einzelfälle. Die Ermittler müssten mit Sicherheit behaupten können: 'Dieser Mensch ist wegen der Unterdosierung seines Medikaments zu Tode gekommen — und bei ordnungsgemäßer Behandlung hätte er noch so und so lange weitergelebt.'"

Matthias Jahn ist Richter am Oberlandesgericht und Leiter der Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung an der Universität Frankfurt. Er betont: Sollte der Staatsanwalt "nicht oder nicht systematisch veranlasst haben, ausgewählte lebende oder jüngst verstorbene Patienten des Angeklagten medizinisch untersuchen zu lassen", sei das "in der Tat erklärungsbedürftig". Jahn verweist dazu auf die bindenden "Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren", in denen es heißt, eine Leichenschau werde nötig, "wenn eine Straftat als Todesursache nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann." Genau das aber tut die Staatsanwaltschaft: Sie schließt aus, dass durch die Taten, die S. vorgeworfen werden, ein Krebspatient hätte vorzeitig zu Tode kommen können.

Fischer bemängelt, Staatsanwalt Rudolf Jakubowski wirke "teilweise verloren" gegenüber den gleich vier Verteidigern des Angeklagten. Dem Mann, der den Aufklärungsprozess vorantreiben soll — als Gegenpol zur Verteidigung —, attestiert sie nur ein "Bemühen der sachgerechten Reaktion auf die Geschehnisse". Ein "aktives und engagiertes Führen der Anklage" sehe anders aus. Prozessbeobachter bestätigen diesen Eindruck. Tatsächlich wirkt der Staatsanwalt in der Verhandlung passiv und schweigsam, phasenweise gar phlegmatisch.

Fischer wirbt in dem Brief dafür, ihm Hilfe an die Seite zu stellen. Im parallel laufenden Loveparade-Prozess beispielsweise seien drei Vertreter der Staatsanwaltschaft aktiv, darunter zwei Oberstaatsanwälte. Dass Jakubowski den komplexen Prozess gegen den Apotheker allein durchfechten solle, dem 60.000 Fälle von Panscherei zulasten von 4000 Patienten vorgeworfen werden, sei schlicht "nicht nachvollziehbar".

Auf Anfrage heißt es von der Staatsanwaltschaft, sie halte die Besetzung "nach wie vor für angemessen". Jurist Heghmanns kann das nachvollziehen: "Es gibt keine festen grundsätzlichen Regeln dazu, wie viele und welche Staatsanwälte welche Prozesse betreuen." Auch komplexe Großverfahren würden wegen des Personalmangels "leider häufig nur von einem Staatsanwalt" bestritten. Im konkreten Fall sei das auch vertretbar. "Es gibt nur einen Angeklagten, dem zwar viele Einzelfälle vorgeworfen werden, aber alle nach demselben Muster." Theoretisch bestehe jederzeit die Möglichkeit, zusätzlich etwa einen Oberstaatsanwalt in den Prozess zu entsenden. "Das wird aber nur höchst ungern gemacht und passiert daher auch nur äußerst selten."

Für Laien befremdlich: Die Betroffenen kommen im Prozess bislang überhaupt nicht zu Wort. "Sie wurden nicht im Ermittlungsverfahren befragt, sie werden nicht in der Hauptverhandlung gehört", konstatiert Fischer. Die Staatsanwaltschaft bestätigt das für den Ermittlungszeitraum. Grund: "weitere Erkenntnisse für die Beweisführung" seien daraus nicht zu erwarten gewesen.

Jurist Heghmanns stützt diese Argumentation: "Bei den derzeitigen Anklagepunkten ist es nur logisch, dass die Betroffenen nicht angehört werden. Angeklagt und damit verhandelt wird eben nur die finanzielle Seite des Falls. Opferpflege ist nicht Aufgabe des Gerichts. Hart gesagt wäre es Zeitverschwendung."

Jahn indes betont, dass im Laufe des Verfahrens "natürlich die Frage der Tatauswirkungen" relevant werden könnte. "Dazu könnten die Nebenkläger sicher etwas sagen." Sollten die mutmaßlich Geschädigten auf diesem Weg aber kein Gehör finden, bliebe ihnen nur ein sehr langer Marsch durch die Instanzen, erklärt Heghmanns: "Sie könnten Strafanzeige wegen versuchter Tötung erstatten." Es sei jedoch zu erwarten, dass der Staatsanwalt das entsprechende Ermittlungsverfahren einstelle — aus Mangel an Anhaltspunkten. Dann wäre ein Klageerzwingungsantrag beim Oberlandesgericht die letzte Chance.

Fischer zufolge haben die Ermittler versäumt, nach der Festnahme von S. dessen mutmaßlichen Opfern Blutproben zu entnehmen, um dort Wirkstoffmengen überprüfen zu können. Dazu erklärt die Staatsanwaltschaft: Man habe insgesamt 15 Patienten Blutproben entnommen — allerdings auf deren Auswertung verzichtet, "weil wir uns keine Aufklärung davon versprachen". Der Nachweis von Unterdosierungen sei extrem schwierig aufgrund fehlender Genauigkeit der Rückrechnung. Zudem hätte sich selbst im Falle eines "vereinzelten sehr deutlichen Ergebnisses" das Strafmaß nicht erhöht.

Fischer wirft der Staatsanwaltschaft vor, dass im Lauf der einjährigen Ermittlung keine Patientenakten ausgewertet worden seien. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft bestätigt das. Angegebener Grund: Die Kenntnis individueller Krankheitsverläufe hätte "keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die Ursachen dieser Verläufe" erlaubt.

Fischer äußert auch Befremden darüber, dass ihres Wissens nach nicht gegen Krebsärzte ermittelt werde, die mit S. teils ein sehr enges Verhältnis gepflegt haben sollen. Nach Fischers Überzeugung deutet eine ganz Reihe vor Gericht bekannt gewordener geldwerter Gefälligkeiten auf ein "Netz der Abhängigkeiten" hin. Die Staatsanwaltschaft sagt dazu, derzeit werde "geprüft", ob gegen mindestens einen Onkologen Ermittlungsverfahren eingeleitet werde.

Fischer beklagt, dass ihres Wissens nicht gegen die Mutter des Angeklagten ermittelt werde. Diese betreibt S.' Apotheke in Bottrop weiter — obwohl sie nach Auskunft mehrerer Zeugen in den vergangenen Jahren mit dem Angeklagten eine "Doppelspitze" gebildet hatte. Deshalb könnten der Frau, so die Überzeugung von Zeugen und Nebenklage, die Missstände im Reinraumlabor der Apotheke kaum verborgen geblieben sein. Die Staatsanwaltschaft schreibt dazu kurz: "Bisher haben sich keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Mittäterschaft der Mutter ergeben." Die Rückübertragung der Apotheke vom Angeklagten auf dessen Mutter sei rechtlich nicht zu verhindern gewesen. Dass diese die Apotheke weiter betreiben dürfe, sei Sache der Apothekenaufsicht. Diese haben wir am Freitagabend für eine Stellungnahme nicht mehr erreicht.

Fischer schreibt in Anführungszeichen von einem "Scheitern" der zuständigen Amtsapothekerin, die für die Kontrolle von S.' Apotheke zuständig war. Wie sich herausstellte, hatte sie jahrelang überhaupt keine Apotheken persönlich kontrolliert, und wenn doch, dann nur nach Ankündigung. Wohlgemerkt: Die Rechtslage verlangt auch nichts anderes. Vor Gericht hatte die Amtsapothekerin L. am 17. Prozesstag aber für Aufsehen gesorgt, als sie versuchte, jede Aussage zu verweigern. Als das scheiterte, offenbarte sie eine erstaunliche Interpretation ihrer Rolle als Kontrolleurin. So betonte sie, es gebe "keinen Zwang, dass ich etwas analysieren lassen muss". Mit dem Angeklagten habe sie "in engem Kontakt" gestanden; Gespräche mit diesem seien "auch eine Form der Überwachung". Schließlich musste sie auf Nachfrage zugeben, auf einen konkreten Hinweis auf schwere Missstände in der Apotheke schon im April 2016 nicht ausreichend reagiert zu haben. Die Staatsanwaltschaft erklärt dazu: Gegen die Amtsapothekerin laufe kein Ermittlungsverfahren.

Fischer beklagt, sie sei wie andere Betroffene im Sommer 2017 von der Staatsanwaltschaft informiert worden, dass eine Zulassung als Nebenkläger "nicht möglich" sei. Inzwischen hat sie sich ebenso wie 46 andere mutmaßlich Betroffene den Status als Nebenkläger auf dem Rechtsweg erkämpft. Die Staatsanwaltschaft schreibt dazu: Dass die mutmaßlichen Betroffenen keinen Anspruch auf den Nebenkläger-Status im Prozess gehabt hätten, "entsprach unserer rechtlichen Bewertung. Das Landgericht hat das anders bewertet. Das kommt bei Rechtsfragen vor und wird von uns nicht weiter kommentiert."

(tojo)
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