Lehrer warnen vor Noten-Inflation Anteil der 1,0er-Abis in NRW so hoch wie nie
Düsseldorf · Eine Studie des nordrhein-westfälischen Philologenverbands zeigt, dass sich der Notendurchschnitt kontinuierlich verbessert hat, seit 2007 das Zentralabitur eingeführt wurde. Der Verband befürchtet eine Entwertung des Abschlusses.
Der nordrhein-westfälische Philologenverband hat 15 Jahre nach Einführung des Zentralabiturs eine Bilanz gezogen. In der Auswertung, die unserer Redaktion vorliegt, kommt der Verband zu dem Schluss: „In jedem Jahr wurden und werden die Durchschnittsnoten der Abiturienten besser.“ Lag 2007 die durchschnittliche Abiturnote noch bei 2,64, so lag sie im Jahr 2021 bereits bei 2,35. „Sehr klar erkennen lässt sich diese Entwicklung auch, wenn man die Zahl der Bestnoten 1,0 vergleicht“, schreibt Guido Schins, Vorstandsmitglied des Verbandes im Bezirk Aachen, in der Auswertung. „Hatten diese 2007 0,64 Prozent der Abiturienten erreicht, so waren das 2021 schon 3,16 Prozent.“ Die „Einsnuller“-Quote habe sich also im Zeitablauf verfünffacht.
„Unsere Auswertung der Zahlen zeigt, dass vor allem in den Fächergruppen der Gesellschaftswissenschaften und der Sprachen, insbesondere der romanischen, sich die Noten kontinuierlich stark verbessert haben“, sagte die Vorsitzende des Philologenverbands NRW, Sabine Mistler, unserer Redaktion. Ein möglicher Erklärungsansatz dafür sei, dass der Fokus deutlich mehr auf Kommunikation gelegt werde, weniger auf Sprachrichtigkeit. Schwankungen gebe es im Fach Mathematik, weshalb es zuletzt auch wieder aufgrund des großen schriftlichen Aufgabenkatalogs Probleme bei den Abiturienten gab. „Auch gibt es im Fach Mathematik einen deutlich geringeren Bewertungsspielraum als in den Gesellschaftswissenschaften und bei den Sprachen“, sagte Mistler.
Stärker noch als im Prüfungsfach Englisch verbesserten sich die Noten im Fach Erdkunde, dem nach Mathematik, Deutsch, Englisch und Biologie am häufigsten gewählten Gebiet mit rund 16.000 Klausuren. Dort steigerten sich die Schüler im Leistungskurs von 7,6 Punkten im Jahr 2007 auf zuletzt 9,3 Punkte; im Grundkurs ist der Notendurchschnitt von 8,3 auf 9,2 Punkte gestiegen. Dass in den „kleineren Abiturfächern“ wie etwa Französisch, Russisch, Musik oder Informatik durchgängig besonders gute Ergebnisse erzielt werden, erklärt sich der Verband damit, dass diese eben von Schülern gewählt würden, die dort besonders leistungsstark seien.
„Wir sehen eine Noten-Inflation kritisch“, sagte Mistler: „Die hohe Quote der Studienabbrecher und auch Kritik von Hochschulprofessoren, was die Fähigkeiten der Erstsemester anbelangt, sprechen hier eine deutliche Sprache.“ Es könne nicht sein, dass die Universitäten mit Brückenkursen das aufholen müssten, was offensichtlich beim Abitur versäumt worden sei. Mistler: „Es geht uns um das Wohl der Abiturienten. Sie sollen angemessen auf ein Studium vorbereitet sein. Dafür bedarf es auch einer realistischen Bewertung und einer grundsätzlichen Diskussion über die Lehrinhalte. Eine Entwertung des Abiturs hilft niemandem.“
Das Schulministerium spricht dagegen nur von einer „geringen positiven Verschiebung des Mittelwerts“: „Die guten Ergebnisse weisen darauf hin, dass in der gymnasialen Oberstufe bestmögliche Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Schüler die Abiturprüfung erfolgreich absolvieren können“, sagte ein Sprecher des Ministeriums. „Die Abiturnoten bilden den Leistungsstand der Abiturientinnen und Abiturienten ab. Das Schulministerium ist bestrebt, bestmögliche Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alle Schüler die Abiturprüfung erfolgreich absolvieren können.“
In allen Fächern sind die Ergebnisse im Übrigen an den Gymnasien besser als an den Gesamtschulen. Meist liegen die Abweichungen zwischen einem und 1,5 Punkten. Keine eindeutige Tendenz gab es dagegen bei den durchgefallenen Abituranwärtern. Die Nicht-Bestehensquote lag im vergangenen Jahr bei 3,39 Prozent und damit ungefähr beim gleichen Wert wie 2007; damals waren es 3,57 Prozent. „Allerdings ist kritisch zu hinterfragen, welche Rückschlüsse man aus der Quote überhaupt ziehen kann“, schreibt Guido Schins in der Auswertung, „denn damit erfasst werden ja nur die Schüler, die die Prüfungen nicht bestehen, nicht aber die, die erst gar nicht zum Abitur zugelassen werden beziehungsweise die bereits vorher die Stufe verlassen.“


