"Nie mehr aus der Welt zu schaffender Verdacht"

Mannheim Rund 100 Menschen bilden eine lange Schlange vor dem Landgericht Mannheim. Bereits gegen 5 Uhr morgens stellen sich die ersten Zuschauer an, um den wichtigsten Tag im Prozess gegen Wettermoderator Jörg Kachelmannn auf keinen Fall zu verpassen. Später im Saal herrscht banges Warten, alle Blicke richten sich auf die beiden wichtigsten Protagonisten: Mit unbewegten Mienen sitzen Kachelmann und seine Ex-Freundin auf ihren Plätzen, harren wie erstarrt auf das Erscheinen der drei Richter und zwei Schöffen. Der Moderator wirkt blass, erschöpft, die Nebenklägerin angespannt und nervös. Um 9.07 Uhr spricht der Vorsitzende Richter Michael Seidling in eine fast greifbare Stille das Urteil: "Der Angeklagte wird freigesprochen." Jubelrufe, Beifall, allgemeine Unruhe. Kachelmann verzieht keine Miene, auch seine Ex-Freundin bleibt zunächst äußerlich gefasst. Erst später, bei der einstündigen Verlesung, fängt sie an zu weinen.

"Meiner Mandantin geht es nach dem Urteil sehr schlecht. Sie muss die Worte des Gerichts jetzt erst mal verarbeiten", sagt der Vertreter der Nebenklägerin, Thomas Franz, nachher. Neun Monate und 44 Verhandlungstage hat die 38-jährige Radiomoderatorin auf diesen Tag gewartet. Ihr Vorwurf, Kachelmann habe sie mit einem Küchenmesser bedroht und dann vergewaltigt, löste den Prozess aus. Nun muss sich die Nebenklägerin vom Vorsitzenden Richter Michael Seidling anhören, sie habe teilweise die Unwahrheit gesagt – was etwa Kontakte zu einer Nebenbuhlerin anging. Diese Lügen in Teilbereichen "hatten in der Beweisführung eine nicht unerhebliche Bedeutung", so der Richter, würden aber nicht ihre gesamte Aussage von vorneherein unglaubwürdig machen.

Während der Richter das Urteil verliest, schüttelt die Nebenklägerin den Kopf, holt Taschentücher hervor, putzt sich die Nase. Blickkontakte mit Kachelmann, der ungerührt bleibt, vermeidet sie. Das Gericht führt weiter aus, es sei überzeugt, die juristisch richtige Entscheidung getroffen zu haben. "Befriedigung verspüren wir dadurch jedoch nicht", sagt Richter Seidling. "Wir entlassen den Angeklagten und die Nebenklägerin mit einem möglicherweise nie mehr aus der Welt zu schaffenden Verdacht, ihn als potentiellen Vergewaltiger, sie als potentielle rachsüchtige Lügnerin."

In der Gesamtschau gebe es "keine tragfähige Grundlage für eine Verurteilung von Herrn Kachelmann", sagt der Vorsitzende Richter bilanzierend. Dies werten Prozessbeobachter, aber auch der Vertreter der Nebenklägerin, als Freispruch zweiter Klasse. Viele Zuschauer im Mannheimer Landgericht interessiert das nicht. Fünf Damen feiern auf dem Flur mit Piccolo-Fläschchen Sekt das gerade gefallene Urteil. Andere kritisieren es – die Frauenrechtsorganisation "Terre des Femmes" und der Opferhilfeverein Weißer Ring zum Beispiel fürchten eine fatale Signalwirkung, weil Opfer von Vergewaltigungen davon abgehalten werden könnten, Anzeige zu erstatten.

Nach der Urteilsverkündung verschwindet Kachelmann ohne ein weiteres Wort, seine Ex-Freundin bleibt noch einen Moment im Saal sitzen, bevor auch sie geht. Später sieht man Kachelmann im Fond einer Limousine, den Kopf nachdenklich auf die Hände gestützt. Er fährt in eine ungewisse Zukunft – unabhängig von Schadensersatzforderungen, Schmerzensgeldansprüchen und Revisionsprozessen bleibt die Frage, ob er sich von diesem Prozess erholen kann. Dies gilt auch für die Nebenklägerin.

Richter Seidling formuliert es so: "Wir entlassen den Angeklagten und die Nebenklägerin aber auch mit dem Gefühl, ihren jeweiligen Interessen durch unser Urteil nicht ausreichend gerecht geworden zu sein. Bedenken Sie, dass Herr Kachelmann möglicherweise die Tat nicht begangen hat und deshalb zu Unrecht als Rechtsbrecher vor Gericht stand. Bedenken Sie aber umgekehrt, dass Frau (...) möglicherweise Opfer einer schweren Straftat war. Unterstellen Sie die günstigste Variante für Herrn Kachelmann und Frau (...) und führen Sie sich dann vor Augen, was beide möglicherweise durchlitten haben."

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort