Istanbul "Es ist vorbei, wir haben gewonnen"

Istanbul · In den Cafés des liberalen Istanbuler Zentrums wird nach dem gescheiterten Putsch heftig über die Hintergründe diskutiert. Weite Teile der Bevölkerung sind froh, dass der Aufstand vorbei ist - die Nacht war auch hier dramatisch. Die verstärkte Präsenz offensichtlich islamistischer Eiferer aber erfüllt viele mit Sorge.

"Wachen für die Demokratie" - Erdogan-Anhänger gehen auf die Straßen
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"Wachen für die Demokratie" - Erdogan-Anhänger gehen auf die Straßen

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Foto: afp, OZN

Diese Bilder werden sich der türkischen Nation einbrennen. Es ist die Nacht von Freitag auf Samstag: Das Militär putscht, auf dem Taksim-Platz im Herzen der Metropole Istanbul haben 20 Soldaten, junge Kerle, Posten um das historische Denkmal für den Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk bezogen. Das soll offenbar ein Statement sein, denn das heroische Monument ist ein nationales Heiligtum wie die Armee des Landes. Doch die Soldaten wirken so gar nicht heldenhaft, vielmehr angstvoll und verletzlich. Sie drängen sich eng aneinander, umklammern ihre aufgepflanzten Gewehre wie Talismane. Vor ihnen 200 wütende Männer, viele mit Vollbart, die "Soldaten in die Kaserne" brüllen und "Gott ist groß!". Dann skandieren sie den Namen des Staatspräsidenten: "Recep Tayyip Erdogan!" Nur einer Kette von Männern, die sich schützend vor sie stellen, haben die Soldaten es zu verdanken, dass die Menge nicht handgreiflich wird. 50 Meter entfernt steht die Polizei in voller Montur mit einem Wasserwerfer, ohne einzugreifen.

Einen Militärputsch stellt man sich doch irgendwie anders vor. Eine Stunde später marschiert eine weitere Truppe von 20 Soldaten auf den Platz, da stellen sich ihr Männer in den Weg mit erhobenen Händen und einer türkischen Flagge. Der Trupp stoppt, die Polizei steht daneben und guckt. Es kommt zu Gedränge. Schließlich wissen sich die Soldaten nicht mehr anders zu helfen, als wild in die Luft zu schießen. Minutenlang hallen die Schüsse über den Platz. Die Zivilisten flüchten. Die Polizei schaut zu. Dann macht der kleine Kordon kehrt und verschwindet wieder unter Gewehrfeuer. Menschen liegen am Boden, verletzt von Querschlägern. Krankenwagen fahren vor mit Blaulicht und Sirenen. Die Soldaten am Atatürk-Denkmal wirken jetzt noch hilfloser. Viele zittern vor Angst. "Wir haben keine Ahnung, was los ist", sagt ein Wehrpflichtiger. "Wir wurden hierher zu einer Übung befohlen." Sie werden noch Stunden so ausharren müssen.

Jetzt kursieren ihre erbarmungswürdigenden Fotos bereits millionenfach im Internet. Bald kommen verstörende Bilder von Soldaten hinzu, die sich dem Mob auf einer Brücke über den Bosporus ergeben, die sie in der Nacht zuvor gesperrt hatten. Ein bärtiger Mann schlägt wie wild mit seinem Gürtel auf vor ihm knieende türkische Soldaten ein, deren zerschundene Gesichter vor Angst verzerrt sind. Die Fotos zeigen die Rache der Sieger einer Nacht, in der das Militär zum fünften Mal gegen eine demokratisch gewählte Regierung geputscht hat. Es sind Bilder, wie es sie in der Türkei noch nie gab. Denn die riesige türkische Wehrpflichtigenarmee wirkte bisher wie ein Fels in der Brandung der Stürme, die über das Land fegten. Jetzt sieht man sie demoralisiert, gedemütigt, geschlagen von Islamisten. Es sind Bilder von Soldaten, die von ihren Vorgesetzten nicht geschützt werden, und eines Staates, der den Mob gewähren lässt.

In Istanbul sehen die Leute sie sich am nächsten Tag auf ihren Smartphones an und bleiben erstaunlich ungerührt. "Es ist vorbei, wir haben gewonnen", sagt eine Frau. Viele sind erleichtert. Die Geschäfte und Restaurants haben geöffnet, die Obsthändler und Dönerverkäufer arbeiten wie gewohnt. Auch gestern stehen einige Männer und Frauen um das Atatürk-Denkmal, schwenken die rot-weißen türkischen Flaggen, singen patriotische Lieder und skandieren den Namen des Staatspräsidenten. Am Abend zuvor haben hier einige Hundert Menschen gegen die Putschisten demonstriert. Im Übrigen wirkt die Lage normal.

Als Erdogan gegen vier Uhr morgens im Präsidentenjet auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul landete und eine Pressekonferenz abhielt, sagte er, die Putschisten hätten sein Ferienhotel in der Ägäisstadt Marmaris bombardiert, aber er sei rechtzeitig vorher abgeflogen. "Die Türkei wird nicht vom Militär regiert", erklärte er und befahl, von Aufständischen gekaperte Kampfjets abzuschießen. Er wirkte maskenhaft, aber selbstbewusst wie immer.

"Ich habe am Atatürk-Flughafen nur Erdogan-Anhänger gesehen", berichtet eine Augenzeugin. "Es gab keine Polizei, und Militär tauchte nur kurz mal an der Passkontrolle auf." Ein pensionierter türkischer Offizier, mit dem sie sprach, war verwundert, dass Erdogan unbehelligt auf dem Flughafen landen und vor seine Anhänger treten konnte. "Das ist kein echter Putsch", sagte er. "Das ist eine Inszenierung. Echte Putschisten hätten niemals zugelassen, dass der Präsident hier landet."

Auch anderswo sind unter den Demonstranten offenbar nur wenige, die in Opposition zum Staatschef stehen. Das hängt nicht damit zusammen, dass sie einen Putsch unterstützen, als vielmehr mit den Sommerferien, die viele Angehörige der liberalen Mittelschicht am Mittelmeer verbringen. "Als ich am Samstagnachmittag auf die Straße ging, hatte sich das Leben normalisiert, aber auf den großen Plätzen sammelten sich nur Leute, die ich als Religiöse bezeichnen würde, mit Bärten und Kopftüchern", erzählt Ayse Yücel (Name geändert), eine Ingenieurin aus Ankara. "Ich hatte ein seltsames Gefühl, weil ich wie sonst auch ein Hemd mit Spaghettiträgern trug. Als ob ich in Gefahr wäre. Es war, als ob die Religiösen plötzlich überall wären."

Niemand aus ihrem Bekanntenkreis feiere die Niederlage der Putschisten als Sieg der Demokratie, sagt Ayse Yücel. Doch im Internet kursieren jetzt immer mehr Bilder der islamischen Revolution im Iran 1979, als Ayatollah Khomeini im Nachbarland wie Erdogan das Volk auf die Straße rief. Auch die Bilder der getöteten Wehrpflichtigen machen der Ingenieurin Angst. "Ich fürchte mich zum ersten Mal in meinem Leben vor der Entwicklung im Land und überlege, ob ich es verlassen muss", sagt sie. Sie wohnt in der Nähe des Präsidentenpalastes, den die Aufständischen am Samstagmorgen bombardierten. "Die Explosionen waren furchteinflößend. Ich dachte, die Fenster zerspringen, ich habe geweint." Sie glaubt, dass die Putschisten sich total verkalkuliert hätten und die Lage im Land jetzt noch instabiler werde, als sie es ohnehin schon war.

Auch in den Cafés des liberalen Istanbuler Zentrums reden sich die Menschen die Köpfe heiß, wer eigentlich und warum hinter dem Putsch stecke. Jeder kennt die These des prominenten Investigativjournalisten Ahmet Sik, dass die Regierung von dem Plan Wind bekam und die Umstürzler sich zum Handeln gezwungen sahen, bevor ihre Vorbereitungen abgeschlossen waren - auch Gülnur Savran, eine pensionierte Politikprofessorin, die mit vier Freundinnen zum Brunch in einem Bistro sitzt. "Wir werden einen Putsch niemals gutheißen. Ich habe seit 1960 drei Putsche miterlebt und kann sagen: Dieser neue Staatsstreich war eine Farce und eine Show im Fernsehen." Gülnur Savran befürchtet, dass Erdogan jetzt "noch faschistischer" werde und eine "schreckliche Diktatur" errichte: "Ich bin sehr pessimistisch. Erdogan ruft seine Anhänger auf die Straßen. Das kann nur übel enden."

Am Samstag werden aus verschiedenen Städten der Türkei Übergriffe auf ethnische Minderheiten gemeldet. In den Städten Osmaniye, Malatya und Iskenderun seien Büros der prokurdischen Linkspartei HDP attackiert worden, in Ankara setzt ein fanatisierter Mob eine Schule von Gülen-Anhängern in Brand. Kneipengänger werden attackiert, weil sie Alkohol trinken. Durch die Fußgängerzone Istiklal Caddesi marschieren Erdogan-Fans und rufen religiöse Parolen.

(RP)
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