Gewalt von Schülern Ein Lehrer gibt auf

Mönchengladbach · Herbert Zenzes ist gerne Hauptschullehrer im Kreis Viersen, bis ihn seine Schüler regelmäßig beleidigen. Da sein Arbeitgeber tatenlos zusieht, flieht der Lehrer in die Rente.

 Herbert Zenzes.

Herbert Zenzes.

Foto: Ilgner Detlef (ilg)

Am 19. Januar 2015 hat Herbert Zenzes genug. Er packt seine Tasche und fährt nach Hause. Er sollte die 9c unterrichten, Mathematik, dritte Stunde. Aber jemand hat die Tür aus den Angeln gehoben. Hätte Zenzes sie wie üblich geöffnet, sie wäre wohl auf ihn gefallen. Während der Hausmeister und er mit der Reparatur beschäftigt sind, knallt es im Klassenzimmer. Einmal, zweimal. Zenzes bekommt Panik. Im Raum sind die Schuldigen schnell gefunden: Timon, zwei Böller. Schüler und Hausmeister streiten um die Knallkörper-Reste, Zenzes will schlichten. „Halt die Fresse, Alter“, sagt Timon. Als Timon den Klassenraum verlassen hat, will Zenzes unterrichten. Möglich ist das nicht. Manche Schüler weigern sich, mit ihm zu reden.

Online-Strafanzeige bei der Polizei zum Vorfall am 19.1.2015: „Der Schüler hat mich schon mehrfach in übelster Weise beschimpft und beleidigt (…) Ich habe inzwischen Angst vor dem Schüler (…) Zurzeit bin ich arbeitsunfähig erkrankt und nur zu Hause zu erreichen.“

Mai 2018: Zenzes sitzt am Küchentisch eines Einfamilienhauses in Mönchengladbach-Hardt. Sein ganzes Leben hat er in dem beschaulichen Stadtteil verbracht. Hier ist er aufgewachsen, hat seine drei mittlerweile erwachsenen Kinder großgezogen und hier lebt er bis heute mit seiner Frau Christa, einer Diätassistentin und Künstlerin. Über drei Jahre sind seit Zenzes´ letztem Schultag vergangen. Nun sitzt er da: weißes Haar, weißer Bart, kariertes Hemd, Brille – der Prototyp eines Lehrers. Er ist in Rente, mit 61. Jeder Artikel, jeder Fernsehbericht zum Thema Schule wühlt ihn noch heute auf. Seine Kinder haben ihn bekräftigt, seine Geschichte zu erzählen. „Das letzte Erlebnis war das schlimmste“, sagt Zenzes. Aber es war nicht sein erster Tiefpunkt. Klassenbucheinträge, Berichte an die Schulleitung, Briefe an Ministerpräsidenten – er hat auf seinem Computer alles dokumentiert, im Ordner „Meine Zeit in der Schule“. Er liest sich wie ein einziger Hilfeschrei.

28.10.2014, Mathematik, 9c: „Während dieser Auseinandersetzung fiel durch diesen Schüler das Wort „Aslak“, phonetisch für mich zunächst wie „Arschloch“ (…) Ich habe daraufhin dem Schüler sehr deutlich gezeigt, was ich jetzt gerne tun würde und die Hand gehoben, aber nicht geschlagen. Er wollte sich danach mit mir prügeln (es kam nicht dazu) und hat die Klasse verlassen. Für mich war es ausgesprochen schwer, mich in dieser emotionalen Ausnahmesituation im Griff zu halten.“

1984 schließt Zenzes sein Lehramt-Studium ab, findet zunächst keine Stelle. Er arbeitet in der Verwaltung, bis sich 1995 endlich sein Berufswunsch Lehrer erfüllt. „Von da an lebte ich für die Schule“, sagt er. Er unterrichtet Erdkunde, katholische Religion, aber auch Kunst oder Mathematik. „Alles was anfiel“, sagt er. 2000 wird er Schulleiter an einer Hauptschule im Kreis Viersen. Als dieser 2008 die Schließung droht, legt er sein Amt nieder und wechselt an eine andere Hauptschule im Kreis. „Hauptschulen waren für mich immer der Ort, an dem wir Schüler für handwerkliche Berufe ausgebildet haben. Einfach war das nie, aber es hat häufig funktioniert“, sagt er. Es wird immer schwieriger. Zunehmend sammeln sich diejenigen Schüler an der Hauptschule, die sonst niemand will. Auch die Respektlosigkeit in der Gesellschaft sei gestiegen, sagt Zenzes. Sein Sohn, ein Feuerwehrmann, berichte ähnliches von seinen Einsätzen. Nicht zuletzt hingen Zenzes´ Probleme aber auch mit seiner letzten Schule zusammen. Der alte Schulleiter stirbt. Ein neuer kommt und ist gleichzeitig für zwei Schulen verantwortlich. „Dann wurde es schwer“, sagt Zenzes.

14.11.2014, Wirtschaftslehre und Englisch, 7b: „Aus heiterem Himmel traf mich ein Filzstift mit voller Wucht am Kopf (…) Ich bin aufgesprungen (dabei habe ich den Stuhl umgeworfen) und ich habe daraufhin sehr laut und sehr bestimmt gefragt, wer das gewesen sei (…) Von den Schülern habe ich Folgendes gehört: „Wir machen dich fertig“ (…) “Halt die Fresse Alter“ (…) “Sie fangen gleich eine“.

Immer wenn er sich beschwert habe, sei es im Sande verlaufen. „Die Schule hatte ein Image zu verlieren“, sagt Zenzes. „Da hieß es dann nur, ich sei hoffnungslos überlastet – und das stimmte ja auch.“ So wie ihm gehe es vielen Kollegen, sagt er. Sie haben Probleme, die Verwaltung beschwichtigt, die Vorgesetzten schauen weg. „Das Klassenbuch wurde auch nie vom Schulleiter unterschrieben – vielleicht nach dem Motto: Ich habe das alles nicht gewusst“, sagt Zenzes. Auch heute will sich der Schulleiter auf Anfrage nicht zum Thema äußern. Über ehemalige Lehrer rede er nicht, lässt er ausrichten. Auch höhere Stellen sagen zu dem Fall nichts. „Es gibt viele Ansatzpunkte, die an Schulen ergriffen werden, um präventiv Gewalt und Diskriminierung entgegenzutreten“, heißt es aus dem NRW-Schulministerium. Ein Notfallordner „Hinsehen und Handeln“ sei an die Schulen verteilt worden, Gewaltprävention und Gewaltintervention seien Teil der Lehrerausbildung. Im Prinzip seien seine Schüler vor 20 Jahren nicht anders gewesen, sagt Zenzes. Auch da gab es Störer. „Doch dann gab es ein Elterngespräch, es gab Sanktionen und die anderen Kinder blieben bei der Stange.“ Heute merkten die Schüler, dass die Störer durchkommen, die Reaktion ausbleibt.

Aussage V. über den Vorfall in der Schule vom 14.11.2014: „Herr Zenzes sagte zu M. und T.: „Wollt ihr euch mit mir prügeln?“ Beide verneinten. Danach ist T. wohl ausgerastet. Er hat seine Hände zu Fäusten geballt und hat angefangen zu weinen. Die anderen Schüler haben versucht, T. zu beruhigen. Die meisten Mädchen in der Klasse fingen auch an zu weinen.“

„Ich würde noch immer jungen Menschen empfehlen, Lehrer zu werden. Das ist ein toller Beruf“ sagt Zenzes. „Ausbildung ist das A und O einer Gesellschaft.“ Aber es müsse sich etwas ändern, damit es bei anderen Lehrern nicht ende wie bei ihm. Es sind die üblichen Wünsche: Mehr Geld, mehr Sozialarbeiter, mehr Fachkräfte. Und ein anderes Arbeitsklima, bei dem die Lehrer mit ihren Problemen nicht alleingelassen werden. Es gibt eine Formulierung, die sich in vielen seiner Berichte wiederfindet: „Eine solche Situation macht mich krank und belastet mich extrem stark“. Er schreibt von Schlafproblemen, von Gefühlen des Ekels.

9.12.2014, 5.Stunde: „Der Schüler weigert sich, sich zu setzen (…) Es kam zu einem Wortwechsel, in den er mir zu verstehen geben wollte, dass (…) er sich zu Unrecht so behandelt sähe und dass er sich bei der Schulleitung darüber beschweren wolle. In diesem Wortwechsel fiel auch der Satz zu mir „Halt die Schnauze!“

Als Zenzes seinen Kampf als Lehrer verliert, beginnt der nächste Kampf. „Es war harte Arbeit, an mein Geld zu kommen“, sagt er. Schließlich werden ihm sein Urlaubsanspruch und seine Überstunden ausgezahlt. Dazu kommt noch eine Abfindung. Zenzes ist schwerbehindert, der Rücken spielte irgendwann nicht mehr mit. „Die Redewendung ´man hat mir das Rückgrat gebrochen´ ergibt schon Sinn“, sagt er. Nach dem Ende seiner Schullaufbahn bewirbt sich Zenzes mehrfach auf Stellen in der Bezirksregierung. Er wird nicht zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, was ihm als Schwerbehinderter eigentlich zusteht. Der gerichtliche Vergleich bringt ihm 13.500 Euro ein. Vergangenes Jahr nimmt er noch einmal eine Stelle als Job-Coach beim Arbeitsamt an. Er unterstützt Langzeitarbeitslose auf ihrem Weg zu einer qualifizierten Ausbildung. Eine schöne Aufgabe sei das gewesen.

21.11.2016, Brief an die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft: „Ich will nicht heulen, nicht lamentieren. In der Anlage füge ich lediglich eine Zusammenfassung der Vermerke bei, die ich im letzten Halbjahr meiner Tätigkeit über die Schulleitung und Schulaufsicht zu meiner Personalakte geschrieben habe… Nicht körperliche Gewalt, nein. Beleidigung, Nachrede, versteckte Drohung und passend dazu: arrogante Vorgesetzte. In diesem letzten halben Jahr meiner Tätigkeit für das Land NRW, vor allem danach, ist nicht passiert. Keine Hilfe, kein Gespräch, keine Fürsorge durch den Arbeitgeber, gar nichts, im Gegenteil.“

Ein Mitarbeiter des Schulministeriums antwortet Zenzes auf sein Schreiben an Ministerpräsidentin Kraft, vermittelt sein Bedauern darüber, dass sein „Weg im Dienst des Landes NRW anders verlaufen ist“, als er es sich erhofft habe. Mit der Schulleitung hat Zenzes seit seinem letzten Arbeitstag keinen Kontakt mehr. Es gibt keine Verabschiedung, kein Gespräch. Ein, zwei Kollegen habe er noch zufällig in der Stadt getroffen. „Irgendwie habe ich das Ganze auch weggeschoben“, sagt er. Jetzt will Herbert Zenzes die Rente mit seiner Familie nutzen. In Haus und Garten gebe es viel zu tun, nebenbei hilft er im Pfarrarchiv. Eine Herausforderung wartet noch auf ihn: die Stapel in seinem Arbeitszimmer. Dort sortiert er 20 Jahre Lehrerlaufbahn, wirft vieles weg. „Ich weiß nicht, wie Kollegen das handhaben, aber ich brauche das, um abschließen zu können. Das ist meine Form der Therapie.“

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