Nordrhein-Westfalen Grüner Mühlstein Schulpolitik

Düsseldorf · Bildung ist für die Bürger in Nordrhein-Westfalen nach Asyl das zweitwichtigste Thema bei der Landtagswahl. Zugleich ist die Unzufriedenheit mit der Regierung auf diesem Feld groß. Das ist in vielem verständlich, teils aber auch ungerecht, wie die Bilanz zeigt. Eine Analyse.

Sylvia Löhrmann - grüne Schulpolitikerin und Spitzenkandidatin bei der NRW-Landtagswahl 2017
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Sylvia Löhrmann – die grüne Schulpolitikerin

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Foto: dpa, Roland Weihrauch

Wenn nur sechs Prozent der Befragten einer bestimmten Partei die höchste bildungspolitische Kompetenz zusprechen, ist das bitter. Noch bitterer ist es, wenn diese Partei seit sieben Jahren die Schulministerin stellt. So ist es in NRW den Grünen geschehen, im Februar, in einer WDR-Umfrage.

Zwar waren auch 2012 nur für zehn Prozent die Grünen der bildungspolitische Favorit. Aber dieser miese Wert hat sich nochmals fast halbiert. Zusammen mit dem Befund, dass nur ein Viertel zufrieden ist mit Ministerin Sylvia Löhrmann, und der Einschätzung der Bürger, Bildung sei (nach Asyl) das zweitwichtigste Thema, ergibt sich: Die Schulpolitik ist kein Aktivposten für die rot-grüne Regierung.

Löhrmann selbst verweist immer wieder auf ihre Pluspunkte: Milliarden mehr im Schul-Etat, gut 7000 neue Lehrerstellen, kleinere Klassen (zumindest an den weiterführenden Schulen). Alles richtig – aber sie dringt mit den Zahlen nicht durch. Mehr noch – die Schulpolitik hängt vor allem den Grünen wie ein Mühlstein um den Hals. Das ist in vielem verständlich, teils auch ungerecht. Eine schulpolitische Bilanz.

  • Schulstruktur

Den größten Erfolg erzielte Rot-Grün schon 2011: den "Schulfrieden" mit der CDU. Der stärkte das gegliederte Schulsystem und führte die Sekundarschule ein, an der länger gemeinsam gelernt wird. Der Schulfrieden kaufte Zeit, weil bis 2023 nicht über Strukturfragen geredet werden soll. Mittlerweile hat sich jedoch Gesprächsbedarf angesammelt: Die Gesamtschulen nehmen vielerorts den Sekundarschulen Schüler weg, die Hauptschule stirbt einen stillen Tod. Die Debatte, wie viele Schulformen sich das Land noch leisten möchte, ist neu zu führen, verbunden mit der Frage, wie man mit den Gymnasien umgeht.

Denn deren Eigenart als studienvorbereitende Schulen hat Rot-Grün nie richtig verstanden. Die Gymnasien fühlen sich mit Bürokratie und Aufgaben wie Berufsberatung überfrachtet, zugleich mit einer immer heterogeneren Schülerschaft - die "Kultur des Behaltens" auch schwacher Schüler, die Löhrmann vertritt, halten viele Schulleiter für naiv und fürchten Niveauverluste. Eine Debatte über das Gymnasium ist deshalb überfällig - auch über Aufnahmetests wie etwa in Sachsen.

  • G8 oder G9?

Der Dauerbrenner. Alle Parteien unterschätzten jahrelang den elterlichen Zorn über die verkorkste Umsetzung der gymnasialen Schulzeitverkürzung. Die Basisdemokratin Löhrmann ließ einen runden Tisch Reformen ausarbeiten, die aber in der allgemeinen Ungeduld nie eine echte Chance hatten. Schon als 2015 die Landeselternschaft der Gymnasien die G8-Phalanx verließ, hätte Löhrmann den runden Tisch für gescheitert erklären und ein Reformkonzept vorstellen können. Im Frühjahr 2016, als die G9-Initiativen ein Volksbegehren ankündigten, hätte sie es tun müssen - längst klar war da, dass G8 in seiner jetzigen Form tot war.

Aber sie hielt am runden Tisch fest und wurde kalt erwischt, als im Sommer eine Partei nach der anderen Alternativkonzepte vorstellte. Im Ergebnis hat Löhrmann nun mit ihrem Konzept der individuellen Lernzeiten für jedes Kind das schlechteste aus beiden Welten: keinen überzeugenden Plan und einen brüskierten runden Tisch, weil der am Ende nur noch Staffage war.

Man mag es ungerecht finden, dass sich die Opposition und selbst die SPD relativ billig aus der Affäre ziehen konnten, indem sie einfach neue Konzepte erfanden, der große Unmut jedoch vor allem die Ministerin und ihre Partei trifft. Aber so ist Politik – unterm Strich bleibt: Löhrmann hat den Sprengsatz G 8 nicht entschärfen können.

  • Inklusion

Das nächste Reizthema. 40 Prozent der Kinder mit Handicap lernen inzwischen an Regelschulen. Auf 1,9 Millionen Schüler kommen gut 55.000 mit Förderbedarf, davon 2300 an den Gymnasien. Nichts, womit Nordrhein-Westfalens Schulsystem nicht zurechtkommen sollte. Trotzdem ist der Frust massiv, sowohl bei Eltern behinderter Kinder, die gute Betreuung im gemeinsamen Unterricht vermissen, als auch bei Eltern der Regelschüler, die um Förderung und Leistung ihrer Kinder fürchten.

"Wir müssen nachsteuern", räumte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft vergangene Woche ein. Bloß: wie? Geradezu verzweifelt fordern Eltern und Pädagogen durchgängige Doppelbesetzung in Inklusionsklassen; die aber ist unter den Bedingungen der ab 2020 geltenden Schuldenbremse zu teuer. Und Sonderpädagogen müssen erst in großer Zahl ausgebildet werden. Ob ein Moratorium für Förderschul-Schließungen, das die CDU verspricht, die Lösung ist, darf bezweifelt werden.

Immer noch gibt es ja Hunderte Förderschulen im Land, und wie Zwerg-Förderschulen mit wenigen Anmeldungen sinnvoll zu führen sein sollen, bleibt nebulös. Vor der Versuchung, den seit 2014 geltenden Rechtsanspruch auf einen Regelschulplatz auszusetzen, ist die CDU wohlweislich zurückgeschreckt. Die Situation ist noch verfahrener als bei G 8. Bei der Inklusion, das ist das bittere Fazit, steckt Nordrhein-Westfalen in der Sackgasse. Die Inklusion ist die größte Hypothek der rot-grünen Schulpolitik im Land.

  • Unterrichtsausfall

Der einzige große Aufreger, der einer sinnvollen Lösung zugeführt worden ist, zumindest was die Zahlenbasis angeht. Ab dem kommenden Schuljahr nehmen alle Schulen an der Stichprobe teil - die ermittelte Quote wird also verlässlicher. Ob sie dann eher bei den vom Ministerium verbreiteten 1,8 oder den von Eltern nach anderen Methoden geschätzten zehn Prozent liegt, wird sich zeigen. Jedenfalls besteht die Chance, die sehr erregte Debatte zu beruhigen.

Dass das alles erst der nächsten Landesregierung zugutekommen wird, ist eine Ironie der Geschichte. Sie hat aber einen Grund: Auch hier hat die Ministerin zu lange laviert. Drei Jahre lang gab es wegen des Methodenstreits überhaupt keine Erhebung, und dann hat es nochmals zwei Jahre gedauert bis zu der Entscheidung für ein neues System.

(fvo)
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