Grünen-Fraktionschef Reiner Priggen "Versicherer sollen Netzausbau zahlen"

Düsseldorf · Der Fraktionschef der Grünen im Landtag, Reiner Priggen, verlangt einen Masterplan für die Energiewende. Zentrales Element soll ein Kapazitätsmarkt sein, der regelt, wie viel Kraftwerksreserven vorgehalten werden müssen.

 Reiner Priggen, Fraktionsvorsitzender der NRW-Grünen.

Reiner Priggen, Fraktionsvorsitzender der NRW-Grünen.

Foto: Endermann, Andreas (end)

Herr Priggen, was treibt die Strompreise in die Höhe? Ist es die Umlage für Erneuerbare Energien?

Priggen Es ist falsch, alles auf die erneuerbaren Energien abzuladen. Wir haben drei Umlagen: die Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), die Umlage für Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) und für Durchleitung von Strom. Es sind aber die zügellosen Ausnahmegenehmigungen, die den Preis in die Höhe treiben. Das summiert sich inzwischen auf vier Milliarden Euro. Ich akzeptiere, dass man etwa für die Aluminiumindustrie Ausnahmen macht, weil sie im internationalen Wettbewerb stehen. Aber für Golfplätze, Schlachthöfe und meteorologische Stationen? Es standen deutschlandweit mal 600 Betriebe auf der Ausnahmeliste. Inzwischen sind es rund 2500. Herr Rösler hat jetzt 40 neue Stellen geschaffen, um die Flut von Ausnahmen zu bearbeiten. Das treibt die Strompreise in die Höhe. Hinzu kommt aber noch etwas anderes.

Nämlich?

Priggen Der Emissionshandel hat als Steuerungsinstrument völlig versagt. Die Tonne CO2 sollte 30 Euro kosten, liegt derzeit aber unter drei Euro. Es wurden zu viele Zertifikate ausgegeben. Wäre der Preis höher, könnte die EEG-Umlage um 1,5 Cent niedriger ausfallen.

NRW will mit dem Klimaschutzgesetz eigene Wege gehen. Aber Zertifikate, die in NRW nicht mehr benötigt werden, können von anderen Firmen in Europa gekauft werden. Was nutzt das dem Klimaschutz?

Priggen Deswegen bin ich für ein europaweites Vorgehen. Die EU müsste die zu viel ausgegebenen Zertifikate verknappen, indem sie sie einbehält. Wir brauchen auch eine EEG-Novelle, aber nicht mit rückwärts gerichteten Eingriffen.

Was vermissen Sie?

Priggen Die Energiewende braucht einen Masterplan. Wichtigster Punkt darin müsste ein Kapazitätsmarkt sein. Das heißt, Regeln für das Vorhalten von Kraftwerksreserven für Zeiten, in denen Wind und Sonne keinen Strom produzieren. Wir brauchen eine zuverlässige Kraftwerksreserve von mindestens 4000 bis 5000 Megawatt. Das entspricht vier bis fünf großen Blöcken. Diese Reserve muss in einem staatlichen und transparenten Ausschreibungsverfahren, an dem sich alle Kraftwerksbetreiber beteiligen können, gesichert werden. Aber diese Bundesregierung legt keinen Plan vor, weil sie keinen hat.

Ist die Photovoltaik Schuld an der Kraftwerkskrise?

Priggen Nein, die Bundesregierung hat das Ziel 35 Prozent erneuerbaren Strom in 2020 und 50 Prozent in 2030. Wir liegen jetzt bei 25 Prozent, also gut in den Planungen. Es gibt wichtige Gründe, weshalb wir unsere gesamte Stromerzeugung umbauen. Das muss nur besser organisiert werden.

Die Inbetriebnahme von Datteln IV würde den Stromüberschuss noch verschärfen?

Priggen Natürlich, ebenso wie die anderen vier geplanten Blöcke in NRW: Lünen, zweimal Hamm und Walsum.

Wie hoch ist die Kapazität in Deutschland derzeit?

Priggen Sie liegt bei etwa 19 000 MW. Die gesicherte Leistung liegt bei knapp 90 GW und die Jahreshöchstlast bei knapp 80 GW.

Wie viele konventionelle Kraftwerke sind also überflüssig?

Priggen Das entscheidet der Strommarkt. Aus meiner Sicht sollte in einem ersten Schritt die Bundesnetzagentur die Reservemenge benennen, die notwendig ist, damit zu jedem Zeitpunkt die Stromversorgung gesichert ist. Auf dieser Zahl können alle weiteren Planungen aufbauen. Davon abgesehen bin ich mir sicher, dass die Investoren der noch im Bau befindlichen Kohlekraftwerke die Entscheidung heute so nicht mehr treffen würden.

Zu den unbeliebten Nebenaspekten der Energiewende gehören die Riesen-Stromtrassen, die dafür quer durch Deutschland gebaut werden müssen. Verstehen sie den Widerstand der Bevölkerung?

Priggen Ja, ich verstehe das. Die Menschen fürchten sich vor dem Elektrosmog dieser ungeheuer transportstarken neuen Stromtrassen. Die erste Trasse wird von NRW nach Süddeutschland führen. Wir sollten sie in Wohngebieten unterirdisch verlegen, um die Belastung der Bevölkerung mit Elektrosmog zu reduzieren.

Die unterirdische Verlegung soll das Zehnfache kosten - wer bezahlt das?

Priggen Das ist zu pauschal und falsch. Die Kosten sind vom Gelände abhängig. Ein Erdkabel in der norddeutschen Tiefebene zu verlegen ist etwas anderes als im Mittelgebirge mit felsigem Untergrund. Kleinere Erdkabel sind sogar günstiger und wartungsärmer. Größere sind teurer gegenüber der Freileitung, aber wenn auf diese Weise Klagen und zum Teil neue Genehmigungsverfahren vermieden werden, überwiegt der Nutzen. Erdverkabelung in der Wohnbebauung ist damit in der Summe für die Stromkunden und die Wirtschaft die günstigere Lösung.

Trotzdem erfordert der Netzausbau enorme Investitionen. Wer zahlt?

Priggen Mein Vorschlag: Die großen Pensionskassen und die Lebensversicherer suchen sichere Investitionsmöglichkeiten. Sie verwalten Milliarden Euro an Kundengeldern, und die meisten haben angesichts der niedrigen Zinsen große Probleme damit, diese Gelder zu vernünftigen Renditen anzulegen. Sie sollten in die Stromtrassen investieren und ihr Kapital mit drei Prozent verzinst bekommen. Dann sind die Lebensversicherungen und Renten sicher, und die Stromnetze auch.

NRW verliert gerade tausende von Industrie-Jobs bei ThyssenKrupp, Outokumpu, Opel und anderen. Braucht NRW einen Notfallplan?

Priggen Nein. Die Krisen haben jeweils ganz unterschiedliche Ursachen. NRW kann nichts dafür, wenn ThyssenKrupp in Brasilien Fehlinvestitionen in Stahlwerke vornimmt und dabei Milliarden verliert.

Gesundheitsministerin Steffens (Grüne) hat jetzt das Rauchverbot auf der Dortmunder Messe Intertabac jetzt nach massiver Kritik gelockert. Ärgert Sie das?

Priggen Ganz klar nein. Wir haben eine gute und pragmatische Regelung gefunden. Die Intertabac ist eine Raucher-Fachmesse und als Messe ein singuläres Ereignis im Jahr. Wenn dort geraucht wird, ist das eine sachgerechte Lösung.

SPD-Fraktionschef Römer schließt eine große Koalition im Bund aus. Schließen Sie Schwarz-Grün aus?

Priggen Ich halte es mit der Ministerpräsidentin, die sagt: Ausschließeritis bringt nichts.

Kann NRW die Schuldenbremse einhalten, wenn es nicht zum Machtwechsel in Berlin kommt?

Priggen Dann würden auf Nordrhein-Westfalen zusätzliche Belastungen in Milliardenhöhe zukommen, die wir nicht schultern können.

Detlev Hüwel, Thomas Reisener und Gerhard Voogt führten das Interview.

(jco)
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