Sylvia Löhrmann im Interview "Auch Eltern danken mir, dass wir nicht zu G9 zurückgehen"

Düsseldorf · NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann erklärt, warum sie gegen ein Hin und Her beim "Turbo-Abitur" ist, sich andererseits aber auch nicht klar darauf festlegen will, G8 zu behalten. Und was Schulpolitik in NRW mit dem Brexit zu tun hat.

 "Ich mache keine Basta-Politik, sondern stehe für eine Politik der Beteiligung", sagt Schulministerin Sylvia Löhrmann.

"Ich mache keine Basta-Politik, sondern stehe für eine Politik der Beteiligung", sagt Schulministerin Sylvia Löhrmann.

Foto: Andreas Bretz

Dafür, dass es nur noch zehn Monate bis zur Landtagswahl sind, hat Sylvia Löhrmann (Grüne) reichlich Probleme auf dem Tisch: Eltern empört der Unterrichtsausfall, Umfragen liefern massive Mehrheiten gegen das "Turbo-Abitur", Bürgerinitiativen drohen mit einem Volksbegehren gegen G8 mitten im Wahlkampf. Grund genug, die Schulministerin zum Interview einzuladen.

Frau Löhrmann, die Landesregierung hat angekündigt, die Erfassung des Unterrichtsausfalls zu verbessern, aber nicht gesagt, wie das passieren soll. Wie soll das passieren?

Löhrmann Das haben wir bereits getan — mit mehr Transparenz. Und in der Bildungskonferenz haben wir einen Vorschlag für das künftige Format der Erhebung und den Takt erarbeitet.

Was steht in dem Vorschlag?

Löhrmann Da muss ich um Nachsicht bitten — die Verbände haben sich zum Teil Bedenkzeit erbeten.

Löst dieser Vorschlag das Problem, dass zunächst mehrere Monate darüber diskutiert werden muss, was Unterrichtsausfall überhaupt ist?

Löhrmann Wie gesagt: wir haben die Methode ja schon verbessert — wir werten im Gegensatz zur CDU/FDP-Regierung zum Beispiel den eigenverantwortlichen Unterricht als Vertretung, nicht mehr als erteilte Stunde. Ich bin bereit, die neuen Vorschläge zu übernehmen und umzusetzen.

Bekommen wir jetzt also eine neue Definition für Unterrichtsausfall?

Löhrmann Wir bekommen eine Präzisierung.

Warum ist eine digitale Erfassung im 21. Jahrhundert nicht möglich?

Löhrmann Die Stichprobe erfolgt selbstverständlich digital. Aber schauen Sie, ein Beispiel, wie komplex es ist: Eine Klassenfahrt ist für die jeweilige Klasse Unterricht in besonderer Form, für andere Lerngruppen kann Unterrichtsausfall entstehen bzw. muss Unterricht vertreten werden. Ich hoffe, wir sind uns einig, dass Klassenfahrten sinnvoll sind?

Natürlich. Aber anderswo gibt es solche Erhebungen doch auch.

Löhrmann Unterschiedlich, und den politischen Streit gibt es in jedem Land. Wir wollen den Aufwand für die Schulen möglichst gering halten. Unterrichtsausfall zu erfassen, ist viel mehr Arbeit, als man auf den ersten Blick denkt. Die viel wichtigeren Fragen sind der strukturelle Ausfall und gute Vertretungskonzepte. Da sind wir in guten Gesprächen.

Mehr nicht? Sie sind seit 2010 Schulministerin.

Löhrmann Das Thema war als Problem nicht derart virulent, als ich mein Amt antrat. Und die Statistik zeigt, dass es im Durchschnitt keine Verschlechterung gegeben hat. Ich betone im Durchschnitt! An allen Fragen wird systematisch gearbeitet.

Das Problem mit der Definition haben Sie doch bisher bei der Stichprobe auch. Das ist doch kein Argument gegen eine Vollerhebung.

Löhrmann Die Frage ist: Wie viel Arbeit wollen wir in das Vorhaben stecken, den Ausfall jeden Tag zu dokumentieren? Oder stecken wir diesen Aufwand lieber in die Qualität des Unterrichts?

Aber wenn es den Eltern doch so auf den Nägeln brennt...?

Löhrmann Das reine stundenbezogene Auflisten wird der Komplexität des Themas nicht gerecht. Die quantitative Frage verdeckt die qualitativen Fragen von Schul- und Unterrichtsentwicklung.

Von Qualität habe ich nichts, wenn die Kinder nicht unterrichtet werden.

Löhrmann Die Frage von guter Schule hat über 100 Faktoren — gute Fortbildung der Lehrer, gutes Schulklima und viele mehr. Auch deswegen haben uns ja Gutachter empfohlen, es bei Stichproben zu belassen.

Können Sie verstehen, dass sich viele Eltern von den 1,7 Prozent Ausfall, die die Statistik ausweist, nicht erfasst fühlen?

Löhrmann Natürlich verstehe ich das. Das ist das Problem des Durchschnittswerts. Die Schulleitungen erläutern den Eltern sehr gewissenhaft, warum welcher Unterricht ausfällt, und wie er vertreten wird. Wir haben im Übrigen auch Schulen, an denen kaum Unterricht ausfällt, oder die mehr bieten als sie müssen.

Also alles gefühlter Ausfall?

Löhrmann Nein. Jedem Hinweis wird nachgegangen. Jeder Brief, den ich bekomme, geht an die Schulaufsicht. Die klärt, ob es ein Ressourcen- oder ein Organisationsproblem ist, ob es punktuell oder längerfristig besteht.

Haben wir in NRW zu wenig Lehrer?

Löhrmann Wir haben die Lehrer, die wir aufgrund der Schülerzahlen bereitstellen müssen.

Das klingt aber sehr technisch.

Löhrmann Die Schüler-Lehrer-Relationen sind gesetzlich festgelegt. Wir erfüllen diese Vorgaben. Ich habe seit 2010 sage und schreibe 18.000 zusätzliche Lehrerstellen ins System gegeben, weil wir den kompletten Gewinn, den wir durch sinkende Schülerzahlen hatten, im System gelassen haben. Und im Zuge der flüchtlingsbedingten Zuwanderung haben wir bis jetzt knapp 6000 Lehrerstellen zusätzlich geschaffen. Damit kann ich mich im Bundesländervergleich sehr gut sehen lassen. Ganz aktuell stärken wir mit zusätzlichen Stellen die Inklusion.

Sind Lehrer zu oft krank?

Löhrmann Nicht dass ich wüsste, sie sind auf jeden Fall sehr engagiert....

... und? Sind Lehrer häufig krank?

Löhrmann Und um es genau zu wissen: Unsere Regierung hat jetzt entschieden, eine Krankenstandserhebung auch für Lehrkräfte durchzuführen. Dazu war auch die Beteiligung der Personalräte erforderlich. Bei uns wird Mitbestimmung groß geschrieben.

Sie wissen also heute nicht, ob Lehrer überdurchschnittlich oft krank sind?

Löhrmann Nein. Jetzt noch nicht.

Zwei Drittel der Gymnasien bieten nicht den Unterricht an, den sie anbieten müssten. Und trotzdem gibt es genug Lehrer?

Löhrmann Ein Teil der Gymnasien deckt das Unterrichtsangebot mit seinen Ressourcen ab, ein Teil nicht. Wir haben deshalb sofort die Schulaufsicht eingeschaltet, auch daran wird mit den Schulen systematisch gearbeitet.

Den Gymnasien fehlen 1000 Lehrer.

Löhrmann Diese sogenannte Kienbaum-Lücke ist seit 25 Jahren bekannt, aber alle Regierungen haben lieber in die Unterrichts- und Schulentwicklung investiert, als formal diese Lücke zu schließen, die in meiner Amtszeit kleiner geworden ist.

Die Eltern haben bis zur Wahl 2017 eine aussagekräftige Statistik zum Unterrichtsausfall gefordert. Können Sie das versprechen?

Löhrmann Es geht jetzt um eine Verständigung und ein Votum der Bildungskonferenz für die nächste Legislaturperiode, in diesem Jahr gibt es die optimierte vergleichbare Stichprobe.

Wann ist sie abgeschlossen?

Löhrmann Ich hoffe, im Herbst.

Thema G8: Gerade hat wieder eine Umfrage eine massive Mehrheit gegen das achtjährige Gymnasium ergeben. Müssen Sie nicht langsam doch zu G9 zurück?

Löhrmann Sie wissen, ich war damals gegen G8. Das ständige Hin und Her ist Gift für die Schulentwicklung und bindet enorme Energie, die eher in die Qualitätsentwicklung investiert werden sollte. Trotzdem suche ich natürlich den Dialog mit der Landeselternschaft über die Befragung.

Wo ist für Sie der Bruchpunkt erreicht, an dem Sie sagen: G8 ist gescheitert, es geht nicht mehr?

Löhrmann Wenn Schülerleistungen und wissenschaftliche Ergebnisse das eindeutig belegen würden. Bei meinen Schulbesuchen wird mir eher dafür gedankt, dass wir nicht zu G9 zurückgehen.

Von den Schulleitungen?

Löhrmann Auch von Eltern.

Mit welcher Botschaft in Sachen G8 gehen Sie in den Wahlkampf 2017?

Löhrmann Ich habe den intensiven Dialog mit allen Beteiligten in großer Verantwortung geführt...

... toller Satz für ein Wahlplakat.

Löhrmann Ich bin hier nicht als Spitzenkandidatin, sondern als Schulministerin.

Aber Sie werden auch im Wahlkampf für Ihre Themen werben müssen. Was machen Sie, wenn Sie wiedergewählt werden?

Löhrmann Ich möchte, dass die Schulen die Zeit bekommen, die sie für gute Schulentwicklung brauchen. Und ich rate dazu, die Evaluation abzuwarten, die an 40 Schulen läuft und anschließend an allen Gymnasien.

Ihr Wunsch ist also, dass G8 bleibt.

Löhrmann Mein Wunsch ist, dass die Schulen den Weg qualifiziert weitergehen können.

Warum sagen Sie nicht klar, dass Sie G8 gern behalten würden?

Löhrmann Weil ich keine Basta-Politik mache, sondern für eine Politik der Beteiligung stehe. Es geht nicht um meine Wünsche. Ich glaube nicht, dass es die Arbeit der Schulen verbessert, wenn wir alles wieder zurückdrehen würden. Auch wenn ich mir damit vordergründig vielleicht kurzfristig Freunde machen würde.

Aber was spricht dagegen, den Schulen noch einmal Wahlfreiheit zu geben? Wenn an den Schulen die Stimmung so pro G 8 ist, müssten Sie vor dem Ergebnis ja keine Scheu haben.

Löhrmann Es geht mir um einen sachlichen Diskurs und verantwortungsvolle Schulentwicklungsprozesse. Am runden Tisch haben sich alle Verbände für ein einheitliches System in NRW ausgesprochen.

Es gibt in diesem Streit keinen Kompromiss, sondern nur G8 oder G9?

Löhrmann Ja, ich glaube, dass das so ist. Ich erlaube mir aber den Hinweis auf vielfältige Alternativen mit unseren Gesamtschulen und beruflichen Gymnasien.

Wäre es gut, die Frage "G8 oder G9" mittels eines Volksbegehrens endgültig zu klären?

Löhrmann Das habe ich nicht zu entscheiden.

Aber Sie haben doch eine Meinung!

Löhrmann Die Diskussionen über den Brexit machen nicht nur mich nachdenklich.

Würden Sie den Satz unterschreiben: G8 hat eine Zukunft, die über die nächste Landtagswahl hinausgeht?

Löhrmann Wie könnte ich das?

Aus Ihrer politischen und persönlichen Überzeugung heraus.

Löhrmann Also, tut mir leid... Ich werbe dafür, dass der Schulentwicklungsprozess, der mit großer Mehrheit am runden Tisch verabredet und im Parlament beschlossen worden ist, fortgesetzt wird.

Wir würden nur gern wissen, ob die Schulministerin dafür kämpft, dass G8 eine Zukunft in NRW hat.

Löhrmann Ich kämpfe dafür, dass es gute Schulentwicklung gibt.

Vor Kurzem hat die Diakonie eine Studie vorgestellt, wonach jedes sechste behinderte Kind nur eingeschränkt unterrichtet wird. Wie passt das zum Motto der Landesregierung, kein Kind zurückzulassen?

Löhrmann Moment! Hier geht es um pädagogische Entscheidungen. Anhand individueller Förderpläne bei Kindern mit Behinderungen.

Möglichst vollständiger Unterricht ist also gar nicht unbedingt ein Qualitätskriterium?

Löhrmann Es kann sein, dass für manche Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf manchmal weniger Unterricht angemessen ist. Das gilt zum Beispiel auch für Schulen für Kranke.

Und der Effekt hat gar nichts damit zu tun, dass es viel zu wenig Sonderpädagogen gibt?

Löhrmann Nein, das sind pädagogische Entscheidungen - wir haben die Sonderpädagogen-Ausbildung durch verschiedene Maßnahmen gezielt ausgebaut.

Trotzdem sind es zu wenige.

Löhrmann Wir haben die Stellen bisher besetzen können — es gibt also keinen eklatanten Mangel. Aber wir gehen ja auch abgestuft vor: Nicht alle Schulen arbeiten sofort inklusiv.

Aber selbst für die Aufgaben an diesen Schulen fehlen doch Lehrer.

Löhrmann Wir haben für die Umsetzung der Inklusion zunächst 3200 zusätzliche Lehrerstellen geschaffen und ganz aktuell im Zuge der Nachsteuerung weitere knapp 700. Insgesamt machen die Eltern sehr überlegt von ihrem Rechtsanspruch auf einen Regelschulplatz Gebrauch. Wir werden deshalb länger Doppelstrukturen mit Förder- und Regelschulen haben. Das bindet Ressourcen.

Hat die Bereitschaft der Lehrer, bei der Inklusion viel mehr als Dienst nach Vorschrift zu machen, das ganze Projekt bisher gerettet?

Löhrmann Ich erlebe grundsätzlich sehr engagierte und verantwortungsbewusste Lehrerinnen und Lehrer, und dafür bin ich sehr dankbar. Unsicherheit und Ängste bei neuen Aufgaben verstehe ich sehr gut. So ging mir das auch, als ich 1984 in eine Klasse kam, die zur Hälfte aus Migrantenkindern bestand, und ich auf Deutsch als Zweitsprache nicht vorbereitet war. Entscheidend ist, dass wir die Schulen und Lehrer bei neuen Aufgaben begleiten.

Das heißt, es ist auch Teil des Lehrerberufs, mit Herausforderungen zurechtzukommen, die man im Studium nicht behandelt hat.

Löhrmann Ja, wie in jedem Beruf. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir die Fortbildung deutlich stärken.

Mit Sylvia Löhrmann sprachen Kirsten Bialdiga, Michael Bröcker und Frank Vollmer.

(RP)
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