NRW-Integrationsstaatssekretärin Güler „Die türkische Seele will Anerkennung“

Düsseldorf · Die nordrhein-westfälische Integrationsstaatssekretärin Serap Güler spricht im Interview über Rassismus, deutsche Werte – und über ihre Eltern, die als Gastarbeiter aus der Türkei ins Land kamen.

 Serap Güler ist Staatssekretärin im Integrationsministerium.

Serap Güler ist Staatssekretärin im Integrationsministerium.

Foto: Bauch, Jana (jaba)

Serap Güler (CDU) betritt die Redaktion mit einer Portion Streitlust, zerrissenen Jeans und Turnschuhen. Güler sitzt beim Gespräch drei Sakkoträgern gegenüber. Die Zeitung hat sie intensiv gelesen, auf jeder Seite befinden sich Notizen.

Wie viele zusätzliche Flüchtlinge kann NRW verkraften?

Serap Güler Wenn Sie damit nur die Unterbringung meinen, hätten wir noch Kapazitäten.

Sind Sie denn bereits dabei zu integrieren oder muss sich der Staat noch zu sehr mit Neuankömmlingen beschäftigen?

Güler Wir haben mit den Menschen, die in den vergangenen Jahren gekommen sind, alle Hände voll zu tun. Das sind ja nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Arbeitsmigranten aus Polen und anderen europäischen Ländern. Dort ist die Integration durch die Arbeit gesichert.

Und Flüchtlinge?

Güler Bei Flüchtlingen sehe ich die Grenze der Kapazität erreicht in Bezug auf die Integration. Denn Integration heißt nicht nur, ein Dach über dem Kopf zu gewährleisten, sondern auch Plätze in Kitas und Schulen. Da können wir Flüchtlingszahlen wie 2015 und 2016 nicht mehr verkraften.

Was macht eine gelungene Integration aus?

Güler Gelungene Integration wurde lange Zeit an drei Kriterien festgemacht: Sprache, Bildung, Arbeit. Heute sprechen wir von vier Säulen. Man braucht zusätzlich auch ein gemeinsames Wertefundament, damit Integration gelingt. Jemand, der exzellent die Sprache beherrscht, der in den Arbeitsmarkt integriert ist und auch eine gute Bildung vorweisen kann, der aber nach wie vor nicht bereit ist, grundlegende demokratische Werte dieses Landes zu teilen – ich meine nicht, dass wir da von einer gelungenen Integration sprechen können.

Bei welchem Teil der Zugewanderten ist die Integrationsbereitschaft größer und wo ist es schwierig, einen Wertekonsens zu finden?

Güler Ein großer Teil der Flüchtlinge bringt eine hohe Motivation mit, um hier anzukommen, gerade was den Arbeitsmarkt betrifft. Es hapert bei einigen Eingewanderten an einer unterschiedlichen Wertevorstellung. Das ist nichts, was man von heute auf morgen ändern kann, wo wir aber schnell klare Forderungen stellen müssen. Zum Beispiel haben wir es bei manchen arabischen Flüchtlingen mit Menschen zu tun, die bekommen Antisemitismus mit der Muttermilch vermittelt. Sie werden so sozialisiert. Da müssen wir klar machen, dass dies keinen Platz bei uns hat und auch das Existenzrecht Israels für uns nicht zur Diskussion steht.

Was sagen denn diese Flüchtlinge, wenn Sie mit ihnen reden?

Güler Oft wird schnell deutlich, dass Sie bestimmte Errungenschaften nicht richtig einordnen. Es geht aber nicht nur darum, was mir Flüchtlinge sagen, sondern auch darum, wie wir als Politik auf manche Dinge reagieren. Viele Linke behaupten immer, man brauche weder eine Leitkultur noch eine Wertediskussion, das Grundgesetz alleine reiche aus. Aber es reicht eben nicht aus, weil es sich nicht für jeden von alleine erklärt.

Das Grundgesetz als Leitbild reicht aber doch auch aus.

Güler Das Grundgesetz ist eine großartige Errungenschaft der Bundesrepublik. Wir alle – Politik, Zivilgesellschaft, alle Verantwortungsträger – sind aber auch gefordert, es immer wieder zu erklären.

Was kommt denn Ihrer Meinung nach noch hinzu?

Güler Beispielsweise wenn die Meinungsfreiheit für Hass missbraucht oder die Religionsfreiheit mit dem Eingriff in die persönliche Entfaltung verwechselt wird. Das sind Dinge, die wir besser erklären und dann auch ihre Akzeptanz einfordern müssen – das gilt im Übrigen nicht nur für Flüchtlinge.

Es ist doch ein Unterschied, ob das Grundgesetz besser erklärt werden müsste oder ob noch Werte hinzukommen.

Güler Beides muss passieren. Das heißt: Auch wir müssen uns erst einmal über Grundsätzliches verständigen. Was macht uns als Gesellschaft aus? Wie definieren wir Freiheit? Ist damit nur Meinungsfreiheit, Pressefreiheit oder Religionsfreiheit gemeint? Wie definieren wir die freie Erziehung und Entfaltung eines Kindes? Oder: Was macht uns eigentlich als deutsche Gesellschaft aus?

Und, was macht uns aus?

Güler Wenn es irgendetwas gibt, was typisch deutsch ist, dann ist es das Ehrenamt. Allein in Nordrhein-Westfalen engagieren sich rund sechs Millionen Menschen ehrenamtlich. Das ist fast jeder Dritte. Auch das Vereinsleben ist etwas, was uns als Land ausmacht.

Wie übersetzt man das denn in einen Wertekodex für Flüchtlinge?

Güler Es fällt unter das Stichwort Solidarität und Nächstenliebe, sich für andere zu engagieren. Das ist keine deutsche Erfindung, aber im Ausland gibt es diese Vereinskultur einfach nicht so ausgeprägt. Auf der anderen Seite müssen wir auch das Ehrenamt in den Migranten-Communitys als solches anerkennen. Vielfach wird der Nachmittagstee in der Moschee als Parallelgesellschaft wahrgenommen, Kaffee und Kuchen in der katholischen Kirche dagegen als Ehrenamt. Wir müssen erst einmal definieren, was uns ausmacht. Das muss gemeinsam geschehen, so dass sich die Menschen in dieser Debatte wiederfinden. Wir müssen auch darüber reden, was definitiv nicht zu unseren Werten gehört, wie etwa Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte oder Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt.

Sie sprechen von Solidarität und Nächstenliebe. Das wird doch etwas romantisiert. Die Vereine kämpfen um Mitglieder, die Gesellschaft singularisiert sich. Ist es nicht zu pauschal zu sagen, Solidarität und Nächstenliebe sind deutsche Werte?

Güler Eigentlich sollte jede Gesellschaft auf diese Werte pochen. Ein Vereinsleben muss nicht unbedingt nur für Solidarität und Nächstenliebe stehen, es kann auch für Gemeinschaft stehen. Auch das ist nichts Negatives. Mir war lange das Schützenwesen fremd, bis ich in Köln Schützenvereine kennengelernt habe. Natürlich kann man sich als Frau darüber streiten, ob das alles zeitgemäß ist, vor allem die Bruderschaften, aber nichtsdestotrotz findet man so schnell einen Anschluss in einer Stadt, wenn man neu ist – auch ich als Nicht-Schütze. Das Schützenwesen ist in vielen Orten oft ein wichtiger über Jahrhunderte gewachsener Teil der lokalen Identität.

Engagieren Sie sich ehrenamtlich?

Güler Ja, ich bin in Vereinen und Beiräten unterwegs, aber ich kann das leider nicht mehr so häufig machen wie vor meiner Zeit als Abgeordnete und Staatssekretärin.

Wenn Integration gelingen soll, muss Deutschland sich verändern?

Güler Auf was möchten Sie hinaus?

Sie haben es eben gesagt. Ausländisch klingende Namen werden bei der Arbeitssuche diskriminiert, es gibt Angriffe auf Flüchtlingseinrichtungen, wir unterscheiden beim Ehrenamt.

Güler Das ist sehr zugespitzt. Die meisten Arbeitgeber diskriminieren eben nicht. Es gibt Bereiche, in denen wir uns ändern müssen. Das hat ja auch die „MeTwo“-Debatte gezeigt. Daraus ist eine Debatte über Alltagsrassismus geworden, was ich persönlich schade fand. Das sage ich jetzt aus tiefster Überzeugung: Ich lebe seit 38 Jahren in diesem Land und bis ich eine Person der Öffentlichkeit wurde, musste ich immer sagen: Ich konnte mit keiner Diskriminierungserfahrung „glänzen“.

Sie sind nie wegen ihres Nachnamens benachteiligt worden?

Güler Nein, weder an der Schule noch an der Uni. Ich habe zu Hause von meinen Eltern eingetrichtert bekommen, dass ich immer schuld war, wenn ich mich mit Lehrern gefetzt habe. Man hat bei uns zu Hause eine Niederlage, einen Streit nicht auf die Herkunft bezogen, sondern auf die Person. Deshalb habe ich das immer so bewertet. Die Mails allerdings, die ich in jüngster Zeit erhalte, kann man teilweise nur als rassistisch definieren. Das ist eine neue Erfahrung, mit der ich umgehen muss.

Alltagsrassismus steht, das zeigt „MeTwo“, auf der Tagesordnung.

Güler Ein guter Freund von mir hat einen Doktortitel und einen guten Job, aber in der weltoffenen Stadt Köln aufgrund seines ausländisch klingenden Namens keine Wohnung gefunden. Dann hat eine deutsche Freundin für ihn gesucht und sofort einen Besichtigungstermin bekommen. Darüber müssen wir reden. Damit meine ich nicht, dass der Alltagsrassismus überhandnimmt.

Auch wenn Deutschland kein Rassismusproblem hat, müssen wir die Tendenzen ernstnehmen.

Güler Ja. Aber was mich wirklich nervt ist, dass Rassismus und Diskriminierung in einen Topf geschmissen werden. Da gibt es Unterschiede, nicht nur soziologisch. Die Frage „Woher kommst du?“ wird heute schon als Alltagsrassismus bezeichnet. Die Frage ist anstrengend, ja. Letzten Sonntag war ich mit meinem Mann in Köln in einem Restaurant. Ich habe gezögert, bevor ich den charmanten Kellner mit Akzent nach seiner Herkunft gefragt habe. Dass man jetzt dreimal überlegt, ob schon mit so einer Frage ein politischer Fauxpas begangen wird, ist keine gute Entwicklung.

Also ist die Debatte übertrieben?

Güler Ja, weil wir Rassismus mit Diskriminierung gleichgesetzt haben. Rassistisch war der NSU. Auch eine Abweisung einer Bewerbung aufgrund eines ausländisch klingenden Namens ist eher Diskriminierung als Rassismus, das will ich nicht mit Anschlägen wie in den 90er Jahren in Solingen vergleichen.

Ist Ausländerfeindlichkeit nur ein ostdeutsches Problem, oder sind solche Entwicklungen auch in anderen Teilen Deutschlands möglich?

Güler Auf Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen folgten Mölln und Solingen, die nicht im Osten liegen. Die Ereignisse in Chemnitz zeigen einmal mehr, wie wichtig eine gesamtgesellschaftliche Wertedebatte ist. Die Ausschreitungen des rechten Mobs verurteile ich auf das Schärfste, sie haben rein gar nichts mit unseren Werten zu tun. Das ist Rassismus und muss auch genau so benannt werden.

Ein Parteifreund von Ihnen sagt, dass durch die Flüchtlinge Deutschland in der Tendenz gewaltaffiner, schwulenfeindlicher und antisemitischer wird. Hat er Recht?

Güler Ich finde nicht. Wer ist es?

Jens Spahn.

Güler Dass es mit bestimmten Gruppen Probleme gibt, ist unstrittig. Daraus würde ich aber nicht diesen Satz ableiten. Kurz: Ich bin anderer Meinung, soll in einer Volkspartei schon mal vorkommen.

Das ist eine weit verbreitete Meinung im konservativen Flügel der Union.

Güler Viele Menschen haben eine ganz klare Vorstellung von denjenigen, die zu uns kommen. Wenn man will, kann man da noch die Geschlechterrolle hinzufügen. Dementsprechend ist die Herausforderung riesig. Aber daraus automatisch zu schließen, dass Deutschland nach 15, 20 Jahren schlechter dastehen wird, sehe ich anders.

Kann man einen Muslim, der antisemitisch erzogen wurde, der gelernt hat, dass Frauen weniger Rechte haben, perfekt integrieren?

Güler Das mag schwierig sein. Aber ich glaube an die Menschen. Die Flinte ins Korn zu werfen, ist keine Lösung. Es gehört zum Christentum, seiner humanitären Verantwortung gerecht zu werden. Die Herausforderung ist natürlich groß, aber das heißt nicht, dass alle Menschen, die zu uns kommen, nicht bereit sind, für Schutz und Freiheit auch sich selbst oder ihre Einstellung zu verändern. Aber: Wir müssen diese Einstellungen nicht nur kommunizieren, sondern auch vorleben.

Wie kann das funktionieren? Alle Flüchtlinge unterschreiben einen Wertekanon? Oder über Paten?

Güler Ja, das Ehrenamt spielt eine große Rolle. Viele Flüchtlinge haben in ihren Integrationskursen gutes Deutsch gelernt. Denen fehlt es aber an Austausch im Alltag.

Gibt es eine Möglichkeit, das zu befördern?

Güler Wir haben ein gutes Programm, das diese ehrenamtlichen Projekte fördert. Es heißt „KOMM-AN NRW“. Wir investieren 13 Millionen Euro pro Jahr.

Das ist nicht viel.

Güler Man belächelt diese Projekte schnell. Aber ich merke, dass es oft die kleinen Dinge sind, die mit wenig Geld unterstützt werden, die effektiv sind. Da helfen Ehrenamtliche auf dem Amt und anschließend geht man gemeinsam Kaffee trinken. Da entsteht eine persönliche Ebene, die sehr verbinden kann.

In der Vergangenheit ist in der Integrationspolitik in Deutschland eine Menge falsch gelaufen.

Güler Ja, das stimmt. Ich habe den direkten Vergleich zwischen mir und meinen Eltern.

Was hat man bei Ihren Eltern falsch gemacht?

Güler Bei meinem Vater ganz viel. Er ist 1963 gekommen, meine Mutter 1978. Aber sie spricht besseres Deutsch als er, weil sie eine deutsche Nachbarin hatte, mit der sie sich regelmäßig ausgetauscht hat.

Und Ihr Vater?

Güler Der hat im Bergbau gearbeitet. Unter Tage haben sie halb deutsch, halb türkisch gesprochen. Zur Not versteht man sich im Ruhrgebiet mit Händen und Füßen. Aber die deutsche Nachbarin, selbst aus der DDR geflüchtet, hat meine Mutter an die Hand genommen. Sie hat ihr gesagt: „Das Kind muss mit drei Jahren in den Kindergarten, danach in eine gute Grundschule.“

Das hat die Nachbarin alles Ihrer Mutter gesagt?

Güler Sie hat auch dafür gesorgt, dass ich auf das Gymnasium komme. Wäre es nach meinem Vater gegangen, hätten auch Haupt- oder Gesamtschule gereicht. Er hat sich nie darüber informiert.

Haben Ihre Eltern darüber geredet?

Güler Nein. Über die Generation der Gastarbeiter weiß man viel zu wenig. Und dann stellt sich der frühere Bundespräsident Joachim Gauck hin und beklagt sich über deren Deutschkenntnisse. Er offenbart, dass er diese Menschen nicht kennt. Das finde ich schade.

Brauchen wir eine Migrantenquote im öffentlichen Dienst?

Güler Nein. Ich halte nichts von Quoten.

Welche Nationalitäten sind es, mit denen wir heute in NRW die größten Probleme bei der Integration haben? Sind es immer noch Nordafrikaner?

Güler Wir haben nach wie vor Probleme mit nordafrikanischen Gruppen. Die leben oft gar nicht in Deutschland. Das sind viele, die morgens mit dem Zug aus Brüssel kommen, in Köln Taschenspielertricks aufführen und abends wieder zurückfahren. 2016 war ich mit Joachim Stamp in Marokko, dort haben wir uns die Flüchtlingslager angesehen. Das war eine andere Welt. Viele Jugendliche dort sagen, sie können nicht zurück nach Hause, weil die Familie sie sonst umbringt.

Und welche Gruppe macht besonders große Probleme?

Güler Ein kleiner Personenkreis aus den Maghrebstaaten. Wir haben große Herausforderungen mit der Integration, auch mit Roma, die im Ruhrgebiet unter miserablen Verhältnissen leben.

Es gibt eine Gruppe, an deren Integration bisher alle gescheitert sind: die Familienclans. Wir haben Aussteigerprogramme für Salafisten, für Rechtsextreme, aber was tun Sie, um die Familienclans zu integrieren?

Güler Das ist eher Aufgabe des Innenministers, weil es weniger ein integrationspolitisches als vielmehr ein ordnungspolitisches Problem ist.

Interessant.

Güler Wieso?

Weil es Clans ausländischer Abstammung sind.

Güler Aber ich bin ja nicht für Ausländer, die kriminell sind, verantwortlich.

Man könnte aber sagen, dass bei den Clans die Integrationspolitik gnadenlos versagt hat.

Güler Da reden wir aber über soziale Integration. Wenn das so wäre, dann wäre ich auch für Reichsbürger zuständig. Die sind nicht in diese Gesellschaft integriert und akzeptieren den Rechtsstaat nicht. Muss ich mich um die kümmern? Bei den Clans sind in den zurückliegenden Jahren Fehler gemacht worden, die dazu geführt haben, dass die Betroffenen aus diesen kriminellen Strukturen nur schwer rauskommen. Es gibt libanesische Großfamilien in Essen, die seit über 30 Jahren mit einem Duldungsstatus leben. Ich habe mit jemandem aus einer solchen Familie studiert, der hat keinen Job gefunden, weil alle Arbeitgeber eine Arbeitserlaubnis sehen wollten. Es gibt in diesen Strukturen Menschen, die nicht in den Arbeitsmarkt kommen können und die sich vielleicht deswegen für den falschen Weg entschieden haben. Von 50.000 Duldungen in NRW sind 10.000 Menschen mehr als acht Jahre in der Duldung, das ist schon schlimm genug, aber es können auch bis zu 30 Jahre sein.

Viele Deutschtürken fühlen sich zum türkischen Präsidenten Erdogan hingezogen. Woher kommt das?

Güler Ganz viele junge Menschen türkischer Abstammung finden ihn „sexy“ – so sagt man das, glaube ich, heute.

Warum?

Güler Man muss die türkische Seele ein bisschen verstehen. Sie will Anerkennung.

Die wollen wir alle.

Güler Deutschland hat so viel Anerkennung weltweit – in Wirtschaft, Sport oder Politik. Die Türkei nicht.

Es ist eine Art Minderwertigkeitsgefühl?

Güler Ja, eine Art Minderwertigkeitskomplex. Erdogan hat ein Vakuum der Anerkennung gefüllt. Wir reden von Deutschtürken, die von der deutschen Politik weder umgarnt noch akzeptiert wurden. Was hat man für die türkischstämmigen Bürger in der Vergangenheit getan? Die doppelte Staatsbürgerschaft, die EU-Mitgliedschaft für die Türkei und das kommunale Wahlrecht wurden versprochen.

Das sind doch zentrale Punkte.

Güler Niemand hat diese Versprechen umgesetzt. Irgendwann glauben die Menschen das nicht mehr.

Die doppelte Staatsbürgerschaft kam doch.

Güler Nicht für die erste oder zweite Generation. Das war nicht das, was man versprochen hat. Und dann kommt Erdogan 2008 nach Köln, stellt sich in die Arena, und sagt: Ich bin für euch da. Das haben sie vorher von niemandem gehört. Wir müssen diese Menschen also nicht nur im Kopf erreichen, sondern auch im Herzen. Das klingt etwas kitschig, zugegeben, aber trifft es.

Ein bisschen.

Güler Es geht eben nicht nur über die sachliche Ebene. Man muss die Leute emotional erreichen.

Wie könnte das gehen?

Güler Über Identifikationsfiguren. In der türkischen Community stehen einige Namen vor allem aus dem Sport hoch im Kurs. Denken Sie an Toni Schumacher.

Weil der in der Türkei gespielt hat?

Güler Genau. Oder Christoph Daum, der Trainer in Istanbul war. Politisch zählt Christian Wulff dazu, wegen seines Satzes, der Islam gehöre zu Deutschland. Aber auch Armin Laschet und Sigmar Gabriel. Das sind Menschen, die es schaffen, die Deutschtürken anzusprechen.

Was müssen wir also tun?

Güler Wir brauchen eine Alternative zu Erdogan, jemanden, der das Herz der Menschen erreicht.

Das tut Merkel nicht?

Güler Angela Merkel ist eine Bundeskanzlerin, die wie für Deutschland gemacht ist.

Aber sie hat Akzeptanzprobleme insbesondere bei der türkischen Community, weil sie nicht emotional genug ist.

Güler Akzeptanzprobleme weniger, aber sie ist ja vom Typ her nicht unbedingt emotional. Ein wichtiger Schritt von ihr war, der türkischen Community zu sagen, dass sie auch ihre Bundeskanzlerin ist. Manchmal müssen eben auch Selbstverständlichkeiten unterstrichen werden. Das hat vor ihr so noch kein Bundeskanzler gemacht.

Gehört der Islam zu Deutschland oder nur der liberale Islam?

Güler Der Islam gehört zu Deutschland, weil der liberale Islam ein Teil davon ist. Die Strömungen des Islams, die sich nicht mit unserer Verfassung vereinen lassen, gehören nicht zu Deutschland.

Der konservative Islam akzeptiert, dass in Deutschland der Staat das Sagen hat und nicht eine Religion?

Güler Akzeptieren das andere Religionen auch?

Das Christentum schon, es hat seinen Allmachtsanspruch hinter sich gelassen. Das gilt für den Islam nicht.

Güler Das kommt darauf an, wen man fragt. Ähnlich wie bei anderen Religionsgruppen. Wenn man einen Bischof fragt: Die Bibel oder das Grundgesetz? Was antwortet er?

Der würde sagen: Die Bibel, aber die Gesetze des Rechtsstaats gelten uneingeschränkt.

Güler Viele konservative Vertreter des Islams in Deutschland sehen das genauso. Auch die Ditib würde das so sehen.

Die Ditib bedroht den Rechtsstaat nicht?

Güler Mit der Ditib haben wir Probleme, weil sie nicht nur die religiösen Belange bearbeitet, sondern auch türkische Politik betreibt.

Ist die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann bei konservativen Vertretern des Islam anerkannt?

Güler Das kommt darauf an, wie konservativ der Vertreter ist. Mein Vater würde die Gleichberechtigung nie infrage stellen. Aber er betet fünfmal am Tag, ist gepilgert, hat gefastet. Mir hat er aber nie ein Kopftuch vorgeschrieben.

Sie kennen beide Religionen gut. Ist das Christentum entspannter als der Islam?

Güler Im Gegensatz zum Islam ist das Christentum sehr hierarchisch.

Das ist richtig, aber wir haben das Gefühl, es kollidiert nicht so sehr mit dem Grundgesetz.

Güler Die Gleichberechtigung war jetzt auch nicht unbedingt eine Erfindung des Christentums. Aber vielleicht sind es auch oft die falschen Vertreter, die den Islam in Deutschland erklären. Viele Muslime in Deutschland sind liberal, aber die Verbände, die lediglich 20 Prozent der Muslime vertreten, sind konservativ und bestimmen die Debatte. Vielmehr müssten sich die liberalen Muslime organisieren, damit sich das Gefühl, was sie beschreiben, ändert.

(RP)
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