IQB-Bildungstrend Kampf gegen die Bildungskatastrophe

Düsseldorf · Der IQB-Bildungstrend offenbart, wie stark die Fähigkeiten im Wechsel- und Distanzunterricht gelitten haben. Eltern- und Lehrervertreter fordern Konsequenzen. Die Schulministerin will alles auf den Prüfstand stellen.

Schüler sitzen in einem Klassenraum ihrer Grundschule.

Schüler sitzen in einem Klassenraum ihrer Grundschule.

Foto: dpa/Marijan Murat

Eine Studie zu den Kompetenzen von Viertklässlern hat in Nordrhein-Westfalen Erschrecken ausgelöst. Laut dem „IQB-Bildungstrend 2021“ erreichten beim Lesen 21,6 Prozent der Schüler den Mindeststandard nicht – das sind fast sechs Prozentpunkte mehr als noch fünf Jahre zuvor. Noch drastischer war die Verschlechterung beim Zuhören: 23,3 Prozent schaffen in NRW nicht den Mindeststandard – 10,8 Punkte mehr als 2016. Bei der Rechtschreibung liefern die Klassen ebenfalls keine gute Leistung. Gleiches gilt für das Fach Mathematik, wo der Anteil der Schüler, die den Mindeststandard verfehlen, 28,1 Prozent betrug. Im Bundesschnitt sind es 21,8 Prozent der Viertklässler.

„NRW hat es nicht geschafft, den Abwärtstrend zu stoppen“, kritisierte der Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Lehrerverbands, Andreas Bartsch. „Die Phase der 32 Wochen mit Wechsel- und Distanzunterricht haben klare Spuren hinterlassen. Es zeigt: Zum Präsenzunterricht gibt es keine Alternative.“ Bartsch kritisierte zugleich, die Kultusministerkonferenz müsse endlich davon wegkommen, sich immer nur auf einen Minimalkonsens zu einigen. „Die Leistungsstandards müssen erhöht und nicht weiter gesenkt werden.“

Sachsen und Bayern betonten schon länger, dass ihnen „eine lesbare Handschrift und eine einigermaßen stabile Orthografie“ nicht ausreichen. Auch in Hamburg habe Schulsenator Ties Rabe (SPD) seit einigen Jahren rote Linien eingezogen, sagte Bartsch: „Seine konsequente Politik macht sich jetzt bezahlt. Ich wünsche mir, dass NRW sich da wortgewaltiger in der Kultusministerkonferenz einbringt. Wir brauchen klare Vorgaben und keine Wischiwaschi-Lösungen.“ Bartsch forderte zudem, dass die Lehrer wieder mehr Luft bekommen müssten, die Schüler individuell zu fördern. „Derzeit bleibt überhaupt keine Zeit, um sich womöglich nach Unterrichtsschluss noch mit dem Einzelnen für eine Viertelstunde zu befassen.“

Schulministerin Dorothee Feller (CDU) sagte, der Bildungstrend lege die Schwachstellen des Schulsystems schonungslos offen. „Den Ergebnissen müssen wir uns stellen und uns fragen, was wir alle gemeinsam besser machen müssen.“ Man habe viele gute Maßnahmen, Ansätze und Ideen. „Aber offensichtlich ist es uns bisher nicht gelungen, mit den gesellschaftlichen Veränderungen Schritt zu halten. Deshalb werden wir jetzt alle bisherigen Maßnahmen und auch die zur Qualitätsentwicklung daraufhin überprüfen, ob sie den gesellschaftlichen Veränderungen angemessen gerecht werden.“

Die Landeselternschaft der Grundschulen in NRW zeigte sich bestürzt. Geschäftsstellenleiterin Birgit Völxen sagte unserer Redaktion: „Es rächt sich, dass die Grundschulen die am schlechtesten finanzierte Schulform sind. Das muss sich dringend ändern.“ Sie warnte, dass alles, was im Elementarbereich versäumt werde, sich im weiteren Verlauf der Schulkarriere nur mit einem sehr viel größeren Aufwand nachholen lasse. „Uns ist bewusst, dass das eine gewaltige Aufgabe ist und die Landesregierung nicht im Handstreich die Fehler der Vergangenheit ausbügeln kann. Sie sollte aber deutlich entschiedener den Lehrermangel und den Fachkräftemangel im offenen Ganztag adressieren.“

Zudem erlebe man gerade, so Völxen, dass der Raum für die Schüler knapper werde. „Deshalb fordern wir ein gutes Ausführungsgesetz zum Ganztag, damit wir endlich qualitative Standards bekommen, die den Kindern gute Lern- und Entwicklungschancen bieten. Dies muss unabhängig von den Möglichkeiten des Elternhauses und der Finanzkraft der Kommune verwirklicht werden.“

Ähnlich äußerte sich die NRW-Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Ayla Çelik: „Kinder aus wenig privilegierten Elternhäusern werden abgehängt und die Gefahr ist groß, dass sie es ein Leben lang bleiben.“ Das sei verheerend für eine Demokratie und für den sozialen Zusammenhalt. „Mit diesen Lernrückständen legen wir den Grundstein für gebrochene Erwerbs- und Bildungsbiografien, für wenig qualifizierte Beschäftigung und für die Verfestigung von Armutslagen“, sagte Çelik. „Aufstieg durch Bildung wird in der gegenwärtigen Bildungskrise zu einer Illusion. Deshalb muss die Mangelverwaltung im Bildungssystem enden.“ Konkret forderte die Gewerkschafterin „mehr Mittel, mehr Fachkräfte und eine gut ausgestattete Verteilung nach sozialen Lagen – einen Sozialindex, der seinen Namen verdient“. Schwarz-Grün dürfe sich nicht wegducken, sondern müsse schnell Maßnahmen ergreifen. „Die Bildungsinvestitionen müssen steigen, es braucht eine umfangreiche Fachkräfteoffensive und Entlastungen für die Lehrkräfte von nicht-pädagogischen Aufgaben – damit sie die wertvolle Zeit in die Bildung der Kinder und Jugendlichen investieren können.“

Der schulpolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, Andreas Pinkwart, forderte, die nun unmittelbar betroffenen Jahrgänge müssten ihre Defizite aufholen können: „Wir dürfen sie nicht mit einem solchen Ballast ihren weiteren Bildungsweg auf den weiterführenden Schulen beschreiten lassen.“ SPD-Fraktionsvize Jochen Ott sprach von einer Bildungskatastrophe: „Wir brauchen jetzt eine gemeinsame Bildungskonferenz, um die Zukunftsfähigkeit guter Bildung und den Schulfrieden in NRW zu sichern. Die Landesregierung muss sich dieser Verantwortung endlich stellen.“

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