Parteitag der NRW-Grünen in Neuss Die Frage nach grüner Verantwortung

Neuss · Von wegen Kanzleramt: Die Grünen nehmen auf ihrem Parteitag erst mal die Rathäuser in den Blick.

 Die Landeschefin der Grünen, Mona Neubaur (l.), und die Bundesvorsitzende Annalena Baerbock am Freitag auf dem Landesparteitag in Neuss.

Die Landeschefin der Grünen, Mona Neubaur (l.), und die Bundesvorsitzende Annalena Baerbock am Freitag auf dem Landesparteitag in Neuss.

Foto: dpa/Roland Weihrauch

Sie hat den Eisbären geklaut. Er lag auf dem Rednerpult, herrenlos und unbeaufsichtigt. Also hat sie ihn einfach mitgenommen, unter Zeugen und lächelnd. Ein Stofftier, herzzerreißend süß natürlich, eigentlich ein Geschenk für einen anderen. Aber Annalena Baerbock kann sich diesen Diebstahl auf offener Bühne erlauben. Sie ist Parteivorsitzende der Grünen. Und denen fliegen gerade die Herzen zu, selbst wenn sie Eisbären klauen.

Der rechtmäßige Eigentümer dieses Stofftiers heißt Sven Giegold. Er verfügt angeblich über eine gehörige Sammlung solcher Tierchen. Aber seine Liebe reicht offenbar nicht so weit, dass sie auch Eisbären einschließt. Er lässt ihn liegen, merkt aber an, dass seine Vorsitzende die Frage nach Enteignungen durch den Tierklau neu stelle. Heiterkeit findet man zurzeit nicht auf vielen Parteitagen. Bei den Grünen ziemlich sicher.

Giegold ist bei diesem Parteitag der NRW-Grünen in Neuss der erste, der das Wort in den Mund nimmt. Es ist das grüne Wort der Stunde: Verantwortung. Einige Wochen nun hat sich die Partei an ihrem formidablen Ergebnis bei der Europawahl berauscht. Auch in Neuss bejubeln sich die Delegierten selbst. Die Stimmung in der Neusser Stadthalle ist, das lässt sich so pauschal erheben, verdammt gut. Aber ganz allmählich stellen sich die Grünen die Frage, was da eigentlich auf sie zukommt. Mutmaßlich: Verantwortung.

Sven Giegold sagt in seiner Rede: „Es geht nun darum, das Ende der großen Koalition in Berlin einzuläuten und dort Verantwortung zu übernehmen.“ Das ist für grüne Verhältnisse ein recht deutlicher Aus­spruch. Die Parteivorsitzende Annalena Baerbock gibt sich da zaghafter. Als ein Journalist sie am Rande des Parteitags fragt, ob die Grünen nicht offensiver einen Führungsanspruch für die kommende Bundesregierung formulieren müssten, sagt sie: „Spekulationen befördern nur das Desinteresse an Politik.“ Sie ist sich da mit Robert Habeck, dem anderen Parteichef, einig. Bloß nicht zu offensiv werden.

Aber was heißt dann Verantwortung? Giegold ist ganz „schummrig“ angesichts der Aufgaben, die da kommen. Baerbock sagt in ihrer Rede: „Wir dürfen jetzt nach dem Feiern nicht nur um uns selbst kreisen.“ Es gebe ein paar „dicke Dinger zu knacken“. Irgendwie hat man das Gefühl, den Grünen ist mit Blick auf die Europawahl und aktuelle Umfragen etwas mulmig geworden.

Baerbock ruft die 284 Delegierten auf, bei den Kommunalwahlen im kommenden Jahr die Rathäuser in den Blick zu nehmen. Die Grünen sind in vielen Großstädten stärkste Kraft gewesen, jetzt sollten sie auch Oberbürgermeister stellen, findet die Parteichefin. Dabei könnte ihnen ein ganz neues Problem drohen. Die NRW-Grünen vermelden zwar einen Mitgliederrekord: 16.400. Aber um alle Posten in Räten und Kreistagen zu besetzen, ist das wohl zu wenig. Zum Vergleich: SPD und CDU haben beide in NRW mehr als 100.000 Mitglieder.

Zwei-Euro-Ticket für Bus und Bahn, mehr Solarzellen, frühkindliche Bildung, digitalisierte Arbeitswelt – die Grünen diskutieren bis Samstag nicht nur über Klimaschutz. Man brauche jetzt ein „Vollprogramm“, sagt Sven Giegold. Es reiche nicht mehr, nur einige Probleme lösen zu wollen. Wo sie wieder bei der Verantwortung wären.

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