Interview mit Schulministerin Gebauer „Wir sind keine Bildungspolizei“

Düsseldorf · NRW-Schulministerin Gebauer verspricht, dass jedermann die Ausfallquoten seiner Schule online abrufen kann. Beim gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Handicap setzt sie mehr auf die Mitwirkung der Schulen.

 Schulministerin Yvonne Gebauer (51) im Gespräch in ihrem Ministerium.

Schulministerin Yvonne Gebauer (51) im Gespräch in ihrem Ministerium.

Foto: Anne Orthen (ort)

Ein Jahr ist Yvonne Gebauer jetzt nordrhein-westfälische Schulministerin. Ihr Büro aber ist immer noch nicht fertig eingerichtet. Zwar umgibt schon eine Gruppe von Bronzeskulpturen ihren Schreibtisch, die die FDP-Politikerin sich als Leihgabe des Kunsthauses NRW in Kornelimünster ausgesucht hat – eine Wand aber ist noch kahl. Gebauer wartet auf ein Bild eines Schülers aus Münster. Dort verleiht das Adolph-Kolping-Berufskolleg Kunstwerke.

Frau Gebauer, heute beginnen die Sommerferien. In vielen Schulen findet aber schon seit Wochen kaum noch geregelter Unterricht statt. Was unternehmen Sie dagegen?

Gebauer Diese Einschätzung teile ich nicht. Mein Ziel ist, dass Unterricht bis zum letzten Schultag spannend gestaltet wird. Aber ich kann und möchte auch nicht in jeder Schule kontrollieren, wie das vor Ort abläuft, sondern kann nur appellieren.

Bayern hat an Flughäfen Familien kontrolliert, ob sie mit ihren Kindern zu früh in die Ferien gestartet sind. Können Sie sich das auch für Nordrhein-Westfalen vorstellen?

Gebauer Nein.

Warum nicht?

Gebauer Das ist nicht unser Stil. Wenn Eltern aufgrund eines billigen Urlaubsflugs ihre Kinder früher aus der Schule nehmen, dann ist das ein Verstoß gegen die Schulpflicht und nicht akzeptabel. Wir gehen an den Flughäfen in NRW aber nicht auf die Pirsch nach Schulschwänzern.

Wer soll ein solches Verhalten dann sanktionieren? Niemand?

Gebauer Die Schulen sollen Auffälligkeiten anzeigen. Das wird dann verfolgt, und von der Schulaufsicht kann ein empfindliches Bußgeld verhängt werden.

Ab dem neuen Schuljahr beteiligen sich alle Schulen an der Messung des Unterrichtsausfalls...

Gebauer ... alle außer den Förderschulen und den Berufskollegs ...

... wie gehen Sie dann mit den Schulen um, die besonders hohe Ausfallquoten haben?

Gebauer Wir werden uns die Daten in aller Ruhe anschauen. Ab dem zweiten Halbjahr werden wir die Ergebnisse dann veröffentlichen, zugänglich für jedermann.

In welchem Turnus?

Gebauer Alle drei Monate digital, jedes Halbjahr mit einem schriftlichen Bericht vonseiten des Schulministeriums, und die Schulen bekommen die Daten ebenfalls zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.

Ich kann also sehen, welche Schule in meiner Stadt welche Ausfallquote hatte?

Gebauer Ja. Es besteht aber für die Schulen die Möglichkeit, Sondersituationen aufzuzeigen, wenn zum Beispiel mehrere Lehrerinnen gleichzeitig schwanger sind.

Aber die Quote wird klar erkennbar sein?

Gebauer Ja.

Sie haben sich vergangenes Jahr gegen Schulrankings etwa bei Abiturnoten ausgesprochen. Wie passt das zur schulscharfen Veröffentlichung der Ausfallquoten?

Gebauer Wir machen kein Ranking, wir stellen aber die Daten transparent zur Verfügung.

Aber Eltern werden daraus doch ein Ranking machen.

Gebauer Was jeder daraus macht, ist ihm überlassen. Das Land wird kein Ranking erstellen. Wir stellen niemanden an den Pranger. Mir geht es um belastbare Daten, auf deren Grundlage wir gezielt die Schulen unterstützen können.

Wie werden Sie zählen? Was ist zum Beispiel mit Vertretungen?

Gebauer Wir unterscheiden sechs Stufen: erteilter Unterricht gemäß Stundenplan, Unterricht in besonderer Form, etwa Exkursionen, Vertretung im vorgesehenen Fach, fachfremder Unterricht, eigenverantwortliches Arbeiten in der Oberstufe, ersatzloser Ausfall.

Die letzte offizielle Quote für den ersatzlos ausgefallenen Unterricht betrug 1,8 Prozent. Welches Ergebnis wäre für Sie mit der neuen Methode eine positive Überraschung?

Gebauer Diese 1,8 Prozent wurden von mir und vielen anderen immer angezweifelt. Alles unter fünf Prozent wäre für mich eine positive Überraschung.

Was ist nun mit Schulen, an denen sehr viel Unterricht ausfällt?

Gebauer Diese Schulen müssen wir gezielt unterstützen. Die Schulaufsicht wird das in Zukunft auf Grundlage unserer Erhebung noch deutlich besser können.

Ein Kommissar des Ministeriums, der ins Schulbüro gesetzt wird?

Gebauer Kein Kommissar! Wir sind keine Bildungspolizei! Nein, das ist nicht mein Bild der Zusammenarbeit zwischen den Schulen und der Schulaufsicht im Land. Ich will eine Unterstützung, die den Schulen ihre Möglichkeiten bei der Planung aufzeigt.

Wie wollen Sie die Angaben kontrollieren, die die Schulen machen?

Gebauer Ich vertraue meinen Lehrerinnen und Lehrern, letztendlich sollen sie und die Schulen ja von der Erhebung profitieren. Außerdem werden die Daten veröffentlicht. Das ermöglicht auch einen Plausibilitäts­check durch die Eltern.

Bekommen die Schulen dafür eine neue Software?

Gebauer Ja, erprobt und rechtzeitig vor dem Schuljahresbeginn. Die Software soll dann schnellstmöglich auch mit dem Programm Untis verknüpft werden, mit dem bereits 1000 Schulen arbeiten und ihren Stundenplan erstellen, so dass für diese Schulen die Erfassung noch einfacher über Untis möglich ist.

Der Landtag hat die Abkehr vom Turbo-Abi beschlossen. Haben Sie schon einen Überblick, wie viele Schulen bei G8 bleiben?

Gebauer Nein, die genauen Zahlen kann es noch nicht geben. Die werden wir erst kennen, wenn die Schulen nach den Sommerferien entscheiden, ob sie der Leitentscheidung folgen und zu G9 zurückkehren oder bei G8 bleiben wollen.

Das G9-Gesetz gibt den Rahmen vor. Es sind aber noch viele Einzelfragen offen, auf deren Beantwortung die Schulen dringend warten. Künftig soll es an den Gymnasien zum Beispiel nach Klasse 10 eine Zwischenprüfung zum mittleren Schulabschluss geben. Warum dieser zusätzliche Aufwand?

Gebauer Alle anderen Schulformen haben auch eine Prüfung in der Klasse 10. Ich möchte hier eine Vergleichbarkeit herstellen.

Ist auch eine Zwischenprüfung für das Fachabitur nach Klasse 12 geplant?

Gebauer Nein.

Wie werden die Stundentafeln aussehen?

Gebauer Wir sind kurz vor der Fertigstellung, zum Ende der Sommerferien liegen die Entwürfe des Ministeriums zu den Stundentafeln vor.

Was wird sich ändern?

Gebauer Auf jeden Fall werden wir auch neue Schwerpunkte setzen, zum Beispiel die ökonomische Bildung stärken und die naturwissenschaftlichen Fächer. Mehr kann ich Ihnen noch nicht sagen. Bis zum März nächsten Jahres müssen die neuen Lehrpläne fertig sein.

So spät? Es müssen dann ja bis zum neuen Schuljahr auch noch die neuen Schulbücher gedruckt werden…

Gebauer Das betrifft nur die Klassen 5 und 6. Hier wird es auf der Grundlage der neuen Lehrpläne gute Lernmittel geben. Aber die Zeit ist knapp, das ist richtig. Wir haben ein Ampel-System im Ministerium, um den Fortschritt bei der Erstellung der Lehrpläne zu kontrollieren – und die Ampeln stehen alle auf Grün, das heißt: Wir sind im Zeitplan. Auch mit den Schulbuchverlagen stehen wir in engem Kontakt, damit sie hier umgehend an die Schulbucherstellung gehen können.

Wie viele Stunden sind für das Fach Wirtschaft vorgesehen?

Gebauer Das wird am Ende der Sommerferien feststehen, aber schon jetzt ist klar: Wir werden die ökonomischen Kompetenzen stärken und den Anteil der Wirtschaft im Rahmen des Politikunterrichts ausschärfen.

Wie sollen künftig Ganztag und die Hausaufgabenbetreuung organisiert werden, wenn G9 zugleich auch die Rückkehr zum Halbtagsgymnasium bedeutet?

Gebauer Die Entscheidung über ein Ganztagsangebot obliegt den Schulen. Sie können bei 180 Wochenstunden auch ohne Ganztag auskommen. Für uns ist aber wichtig, dass die Schulen mit ihren Übermittagskonzepten weiterarbeiten können.

Welchen Anreiz haben die Schulen künftig angesichts von Raumnot und Lehrermangel denn noch, weiter eine Ganztagsbetreuung anzubieten?

Gebauer Es wird auch künftig weiter Ganztagsschulen geben. Allerdings sollen die Schulen mehr Spielräume erhalten, um ihr Ganztagsangebot flexibler zu gestalten. Warum muss beispielsweise der Ganztag innerhalb einer Stufe für alle Klassen gelten? Bei denjenigen, die nur noch eingeschränkt oder gar keine Ganztagsbetreuung mehr anbieten wollen, müssen wir darüber reden, was aus dem 20-prozentigen Zuschlag wird, den Ganztagsschulen bekommen. Das prüfen wir gerade.

Aus den Eckpunkten zur Inklusion, die Sie jüngst vorgestellt haben, konnte man den Eindruck gewinnen: Gymnasien müssen gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Handicap nur noch anbieten, wenn sie Lust dazu haben.

Gebauer Es können alle Gymnasien Inklusion machen, die das wollen. Über 100 Gymnasien unterrichten derzeit auch inklusiv.

Und die, die nicht wollen, müssen auch nicht.

Gebauer Die müssen auch nicht. Ich freue mich aber über jedes Gymnasium, das sich beteiligt.

Aber Sie wollen die Gymnasien nicht mehr dazu verpflichten?

Gebauer Die Gymnasien wehren sich doch gar nicht dagegen.

Naja – Sie kennen doch die Klagen von Gymnasien auch, die zur Inklusion verpflichtet wurden.

Gebauer Wenn man in der Bildungspolitik etwas mit Zwang durchsetzen will, hat das noch nie auf Dauer funktioniert, das haben wir ja am achtjährigen Gymnasium gesehen. Das Gymnasium hat den Auftrag, vertiefte Allgemeinbildung zu vermitteln...

... und das rechtfertigt eine Sonderstellung bei der Inklusion?

Gebauer Deswegen unterscheiden wir zwischen zielgleichem Unterricht, also gleiche Abschlüsse, und zieldifferentem Unterricht. Inklusion am Gymnasium soll in der Regel bedeuten: zielgleich. Und da beteiligen sich die Gymnasien wie alle anderen Schulformen und werden das auch weiter tun.

Es soll auch die Möglichkeit geben, Förderschulen wiederaufzubauen. Dann fehlen aber doch an den Regelschulen noch mehr Sonderpädagogen als bisher schon. Verschärfen Sie die Lage damit nicht noch?

Gebauer Nein. Wir bringen mit den neuen Standards jetzt Qualität an die Regelschulen und geben massiv neue Ressourcen dorthin. Die Formel dafür lautet: 25 Kinder in einer Klasse, davon drei mit Förderbedarf, und eine halbe Stelle zusätzlich pro Klasse. Wir schaffen rund 5800 zusätzliche Stellen bis 2025 und investieren dafür 1,4 Milliarden Euro.

Die nötigen Standards, die Sie definiert haben – ein pädagogisches Konzept, Fortbildungen, Ausstattung mit Sonderpädagogen, entsprechende Räume – sind recht allgemein formuliert. Wer überprüft die?

Gebauer Die Schulaufsicht mit ihren örtlichen Kenntnissen im Zusammenwirken mit dem Schulträger.

Kann es passieren, dass Kinder von einer Regelschule zurück an die Förderschule müssen, wenn zum Beispiel eine Schule die Qualitätsstandards nicht erfüllt?

Gebauer Nein. Die Kinder, die jetzt an einer Schule des gemeinsamen Lernens sind, haben einen Anspruch darauf, an ihrer Schule den Abschluss zu machen, wenn sie dort bleiben wollen.

An Regelschulen ohne gemeinsamen Unterricht sollen eigene Förderschulgruppen möglich sein. Da sind doch Hänseleien programmiert.

Gebauer Warum? Ich halte eine solche Lösung für gelebte Inklusion, weil so Kinder aus den Förderschulgruppen permanent in Kontakt mit anderen Kindern aus Regelschulen kommen. Es gibt zum Beispiel einen gemeinsamen Pausenhof, die Kantine, Schulfeste und so weiter.

Aber es fehlt doch der Austausch im gemeinsamen Unterricht.

Gebauer Es wird dann die Aufgabe der Schulen sein, diese Form der Inklusion mit Leben zu füllen. Und zu sagen, jedes Kind mit Handicap sei in einer Regelklasse automatisch integriert, ist doch genauso eine Illusion. Ich bin hier für mehr Ehrlichkeit in der Debatte.

Läuft nicht Ihre Politik insgesamt dem Geist der Inklusion zuwider?

Gebauer Nein, das weise ich entschieden zurück. Ich bekenne mich klar zur Inklusion als Menschenrecht, und wir werden diesen Weg der schulischen Inklusion auch weitergehen. Wir brauchen aber weiter Förderschulen, denn sie sind für manche Kinder der Ort, wo sie bestmöglich gefördert werden. Und das Wahlrecht der Eltern ist ein hohes Gut.

Zielt Ihr Konzept eigentlich auch darauf, dass die Inklusionsquote nicht weiter steigt?

Gebauer Die Inklusionsquoten haben mich noch nie interessiert, daher ist das für mich kein Maßstab. Mir geht es um das Wohl des Kindes.

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