Herr Schüßler, müssen wir inzwischen von einem flächendeckenden Fachkräftemangel sprechen, oder gibt es noch verschonte Branchen?
Arbeitslosigkeit in Zeiten des Fachkräftemangels „77.200 Menschen könnten morgen einen Job haben“
Interview | Düsseldorf · Roland Schüßler ist Chef der nordrhein-westfälischen Arbeitsagenturen. Im Interview spricht er über die schlechte Vermittlungsquote bei Geflüchteten, Sinn und Unsinn von Transfergesellschaften und über Datensätze aus den Schulen.
Schüßler Es gibt so gut wie keinen Wirtschaftszweig mehr, der nicht mindestens einen Fachkräfteengpass aufweist. Inzwischen sind 46 Berufsgruppen betroffen. Insofern muss es uns umtreiben, dass wir zu Zehntausenden arbeitsfähige Menschen haben, die sofort arbeiten könnten, aber keine Stelle finden.
Wie meinen Sie das?
Schüßler Wir haben in NRW 77.200 arbeitslos gemeldete Menschen, die von heute auf morgen einen Job antreten könnten, die gut ausgebildet sind und denen unsere Berater attestieren, dass sie keinerlei Einschränkungen hätten. Und dabei muss man bedenken, dass unsere Berater grundsätzlich eher strenger als großzügiger in der Beurteilung sind.
Wie gehen Sie damit um?
Schüßler Zusätzlich zu unseren üblichen Vermittlungsbemühungen holen wir stärker die Kammern ins Boot. Wir haben genau analysiert, um welche Berufsfelder es sich handelt und wo die Menschen leben. Mit diesen Informationen treten die Kammern an ihre Mitglieder heran, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Angesichts des demografischen Wandels können wir es uns nicht mehr leisten, irgendein Fachkräftepotenzial ungenutzt zu lassen – sei es etwa bei Schwerbehinderten, Arbeitslosen über 55 Jahren oder Alleinerziehenden.
Welches Potenzial sehen Sie bei den Geflüchteten?
Schüßler Wir haben in etwa 15.000 Fachkräfte aus der Ukraine und noch einmal 15.000 aus den acht am häufigsten vertretenen Herkunftsstaaten. Insgesamt haben wir in etwa 76.400 ausländische Arbeitslose in NRW.
Andere Länder sind aber deutlich schneller dabei, diese Menschen in Jobs zu bekommen. Was läuft bei uns falsch?
Schüßler Die Frage ist, ob der Weg der Nachbarländer nachhaltiger ist. In den Niederlanden hat man eine „Arbeit zuerst“-Strategie gefahren und damit eine Beschäftigungsquote von 55 Prozent erreicht. Klingt zunächst einmal toll, da wurde dann aber auch der Mathematiker für einfache Hilfstätigkeiten eingesetzt. 38 Prozent der Geflüchteten landeten in der Zeitarbeit oder kamen anderweitig befristet unter. 28 Prozent haben nur ein sogenanntes Arbeitsverhältnis auf Abruf. So bekommt man natürlich schnell hohe Zahlen. In den Niederlanden ist zudem Englisch als Arbeitssprache geläufiger als in Deutschland. Das erleichtert dort einfacher den Zugang. Wir verfolgen einen Weg der langfristigen Integration mit Spracherwerb und Weiterqualifizierung. Das ist zwar mühsamer und langsamer und hat bei uns zunächst zu einer Beschäftigungsquote von nur 25 Prozent geführt, aber wenn wir in ein paar Jahren noch mal nachschauen, bin ich überzeugt, war unser Weg der nachhaltigere. Das hat im Übrigen auch die erste Flüchtlingswelle gezeigt. Da hat sich was gedreht, wir sind jetzt bei 68 Prozent Beschäftigungsquote, die Niederlande bei 40.
Oft heißt es, die Anerkennung der ausländischen Berufsabschlüsse dauere bei uns viel zu lange.
Schüßler Der Anteil der Berufe, wo eine Anerkennung überhaupt nötig ist, ist verhältnismäßig klein. Da reden wir über Ärzte, Pflegefachkräfte, Juristen und dergleichen. In ganz vielen Berufen ist ein solcher Nachweis gar nicht nötig.
Derweilen kommen beunruhigende Signale vom Arbeitsmarkt. Die Wirtschaft ist ins Stocken geraten. Konzerne entlassen teils zu Tausenden Mitarbeiter. Wie wollen Sie damit umgehen?
Schüßler Wenn ein Unternehmen solche gravierenden Einschnitte plant, werden wir als Arbeitsagenturen schon frühzeitig informiert. Inzwischen lassen wir uns das dann auf Landesebene Fälle ab 100 Beschäftigten melden. Ziel ist es, dass wir landesweit Jobdrehscheiben organisieren, so dass die Betroffenen überhaupt nicht erst arbeitslos werden, sondern direkt weiterbeschäftigt werden. Wir sprechen hier ja häufig von Fachkräften, die an anderer Stelle dringend gebraucht werden. Auch Transfergesellschaften sollten deshalb nur das letzte Mittel sein, eine direkte Vermittlung immer Vorrang haben.
Das setzt aber voraus, dass ein gleichwertiges Arbeitsverhältnis vorhanden ist.
Schüßler Wir haben schon praktische Beispiele aus NRW, wo das gelungen ist. Sie haben aber Recht, dass es schwieriger wird, wenn ein tariflich bezahlter Stahlarbeiter ins Handwerk wechseln soll. Aber statt Geld in eine Transfergesellschaft zu pumpen, könnte das entlassende Unternehmen auch die Lohndifferenz noch für einen gewissen Zeitraum weiterzahlen. Solche Modelle sind durchaus denkbar.
Der Ausbildungsmarkt hat sich ebenfalls verändert. Inzwischen gibt es mehr Stellen als Bewerber, und trotzdem haben immer noch erschreckend viele Jugendliche keine Lehrstelle. Was tun?
Schüßler Wir haben schon gute Instrumente wie das Programm „Kein Abschluss ohne Anschluss“ mit seinen zahlreichen Beratungsmöglichkeiten, aber auch die Jugendberufsagenturen, die wir in nahezu allen Agenturbezirken etabliert haben. Außerdem gibt es gute Dinge, die man sich bei unseren Nachbarn abschauen kann – etwa in Österreich. Ich würde mir wünschen, dass wir diesbezüglich mal mit allen Beteiligten ein wenig mutiger und ohne Scheuklappen zielgerichtet auf die unversorgten Jugendlichen zugehen und die Bedingungen für sie schaffen. In München hat die Stadt beispielsweise gerade ein Wohnheim für Azubis mit 1000 Plätzen geschaffen. So kann man es auch machen.
Die Schulen mussten Ihnen in diesem Jahr erstmals Daten übermitteln, welche Jugendlichen kurz vor ihrem Abschluss noch keinen Ausbildungsplatz haben. Wie läuft das System an?
Schüßler Es ist sehr gut, dass die Schulen diese Informationen an die Bezirksregierungen melden und diese sie dann an uns über entsprechende IT-Systeme weitergeben. Wir sind da noch in der Datenauswertung, aber die ersten Rückmeldungen zeigen, dass wir tatsächlich ein umfassendes Bild bekommen und auch Zugang zu denjenigen bekommen, die bislang noch durchs Rost gefallen sind. Die können wir dann gezielter in den Blick nehmen.
Also keinerlei Probleme?
Schüßler Ich würde mir wünschen, dass der Datenstrom keine Einbahnstraße zu uns ist. Wenn wir besser werden wollen, bei der Vermittlung der unversorgten Jugendlichen, müssen Arbeitgeber, die Übergangslotsen des Landes, die Schulen, die Jobcenter und Arbeitsagenturen, aber auch die Jugendhilfe und die Schulen alle den gleichen Wissensstand haben. Dann können wir die jungen Menschen in den Mittelpunkt stellen. Wo steht sie oder er gerade? Gibt es womöglich Probleme im privaten Umfeld? Wie können wir als Partner, mit jeweils ganz unterschiedlichen Möglichkeiten und zusammen mit den jungen Menschen neue Ansätze finden? Da überwiegen die Vorteile der Transparenz die Datenschutzbedenken. Unser aller Ziel muss doch sein, möglichst viele junge Menschen in ein echtes Ausbildungsverhältnis zu bringen.