Gewalt gegen Kinder 40 Missbräuche pro Tag

Düsseldorf · Der Missbrauch-Skandal von Lügde scheint eine Zäsur zu sein. Polizei, Politik und Justiz reagieren umfassend auf ein grassierendes Problem: Kinderpornografie ist ein Massenphänomen geworden.

 Der Missbrauchsskandal auf einem Campingplatz bei Lügde hat ein Umdenken ausgelöst (Symbolbild).

Der Missbrauchsskandal auf einem Campingplatz bei Lügde hat ein Umdenken ausgelöst (Symbolbild).

Foto: dpa/Guido Kirchner

Rund 40 Kinder, die jahrelang auf einem Campingplatz missbraucht und dabei gefilmt worden sind: Das Drama von Lügde ist weder der erste noch der schlimmste Fall von sexuellem Massenmissbrauch. Und doch hat er den Umgang mit sexueller Gewalt gegen Kinder stärker verändert als alle bisherigen Fälle.

Die NRW-Polizei will als Reaktion auf Lügde die Zahl ihrer Experten auf diesem Gebiet bis 2020 verdoppeln. Die Justiz entwickelt zur Stunde zusammen mit dem Software-Giganten Microsoft eine völlig neue Form der Künstlichen Intelligenz, die Kinderpornos automatisch aufspüren soll. Eine aus der Not geborene Kooperation: Die kinderpornografische Bilderflut ist so gewaltig geworden, dass die Ermittler sie ohne technische Hilfe gar nicht mehr bewältigen können.

Auch die Jugendämter stellen sich neu auf. Bundesweit arbeiten sie an neuen Konzepten. Nie wieder wollen sie Schutzbefohlene Pädophilen überlassen, deren Neigung längst behördlich bekannt ist. Auf Landes-, Bundes- und Europaebene wird nicht mehr diskutiert, ob der Datenschutz im Netz zugunsten der Strafverfolgung von Kindesmissbrauch gelockert werden muss. Die Frage ist nur noch, in welchem Umfang.

„Die Gesellschaft insgesamt hat das Thema jahrzehntelang nicht ernst genommen. Das gilt auch für meine Partei. Aber das ändert sich gerade“, sagt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Die Einsicht ist überfällig. Als der Chef des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, vor wenigen Wochen die Kriminalitätsstatistik für das Jahr 2018 vorstellte, wurde der Horror zur messbaren Zahl: Im vergangenen Jahr registrierten die Behörden rund 14.600 Fälle sexuellen Missbrauchs von unter 14-Jährigen. Es geht also um 40 Kinder pro Tag - eine Steigerung um 6,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Drei von vier Opfern sind Mädchen, selbst Säuglinge werden immer öfter missbraucht. 196 Kinder waren Opfer von Vergewaltigung oder sexueller Nötigung.

Auch konnten die Ermittler mehr Personen identifizieren, die wie die Täter von Lügde Kinderpornos hergestellt, vertrieben oder besessen haben. Die Zahl der aus polizeilicher Sicht aufgeklärten Fälle stieg binnen eines Jahres um fast 1200 auf 7750. Wobei sich alle Experten einig sind, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegt.

Der NRW-Landtag sammelte vor wenigen Wochen die Vorschläge von rund 30 externen Experten für weitere Maßnahmen ein. Dabei gliederten sich die Vorschläge der Fachwelt in Ideen für die vorbeugende Therapie von potenziellen Tätern, für ein selbstbewussteres Auftreten von Kindern in kritischen Situationen, für eine Stärkung der Prävention durch Behörden und bessere Maßnahmen für die Versorgung von Opfern.

Die Berliner Charité fordert ein besser sichtbares und niederschwelliges Angebot für potenzielle Täter. Aus Studien leitet die Berliner Universitätsklinik ab, dass ein Prozent der Männer pädophile Neigungen hat. Aber nur vier Prozent der Betroffenen würden von Präventionsangeboten erreicht. „Es besteht dringender Bedarf an der Ausdehnung des verursacherbezogenenen Präventionsangebotes“, schreiben die Charité-Wissenschaftler und verweisen auf gute Erfahrungen, die Berlin mit der Webseite www.troubled-desire.com gemacht hat. Dort können Pädophilie in vier Sprachen anonym diagnostiziert und behandelt werden.

PAN, der Dachverband der Pflege- und Adoptivfamilien in Nordrhein-Westfalen, will eine unabhängige Fachaufsicht der Jugendämter. „Wir haben in NRW rund 170 Jugendämter. Jedes arbeitet nach eigenen Kriterien“, schreibt PAN. Zudem sei eine Rufbereitschaft für Pflegeeltern auch nach der Dienstzeit und an Wochenenden notwendig.

Die Deutsche Kinderhilfe schlägt einen Kinderbeauftragten auf Landesebene vor, den auch schon der Bundesmissbrauchsbeauftragte eingefordert hat. Er soll einmal jährlich an den Landtag berichten. Zudem soll mindestens eine Kinderschutz-Fachkraft je Polizeidienststelle ermöglicht werden. „Die Polizei sollte bei Hinweisen auf psychische Störungen (...) sowie bei Alkohol-, Drogen und Medikamentenkonsum bei Erwachsenen (...) stets verbindlich (...) klären, ob Kinder zum Haushalt des Betroffenen gehören.“ Dies sei dann dem Jugendamt mitzuteilen. Nach dem Vorbild der USA sollen Internetprovider verpflichtet werden, Verdachtsfälle von kinderpornografischem Material zu melden.

Eine „flächendeckende Versorgung mit Traumaambulanzen“ für Opfer ist ein weiterer Vorschlag. Die schnelle Therapie sei für Betroffene von höchster Wichtigkeit, aber gerade auf diesem Gebiet sind geeignete Therapeuten rar.

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