Heimat von Martin Schulz Letzte Festung Würselen

Kaum ein deutscher Politiker wurde in so kurzer Zeit so hochgejubelt und wieder fallengelassen wie Martin Schulz. Wie haben das Jugendfreunde und Nachbarn in seiner Heimatstadt erlebt? Ein Besuch in Würselen.

 Martin Schulz (Archiv).

Martin Schulz (Archiv).

Foto: rtr, FAB/IK

Die Verkäuferin im Buchladen an der Kaiserstraße muss lange suchen. Die Biografie über Martin Schulz? Sie schaut bei den politischen Büchern nach. Da stehen Gregor Gysi und Navid Kermani. Sie zieht den Computer zu Rate - drei Ausgaben müsste sie noch haben. Die Buchhändlerin rückt den Schemel in eine schwer zugängliche Ecke hinter der Tür, um auch an die höheren Regale zu gelangen. Ganz oben, weit hinten, wird sie schließlich fündig. Vor gut einem Jahr, da warb der Laden mit der Biografie noch im Schaufenster. In jener Buchhandlung, die Martin Schulz einst zusammen mit seiner Schwester führte.

Kaum ein deutscher Politiker wurde in so kurzer Zeit so hochgejubelt und wieder fallengelassen wie Martin Schulz. Im März 2017 machten die Genossen den heute 62-Jährigen zum Parteivorsitzenden, die Begeisterung kannte keine Grenzen. Als Kanzlerkandidat sahen nicht wenige in ihm einen neuen Willy Brandt. Jetzt, zwölf Monate später, ist der einstige Präsident des Europa-Parlaments einfacher Bundestagsabgeordneter. Weder Bundeskanzler noch Außenminister noch Parteivorsitzender.

Die Anteilnahme an dem jähen Absturz ist groß in seiner Heimatstadt Würselen. Kaum einer geht einfach weiter, wenn er auf Martin Schulz angesprochen wird. "Schad' drum", sagt Roman Au-Bölter, der in dem Städtchen bei Aachen geboren ist und früher mit Schulz' Sohn befreundet war. Das Haifischbecken in Berlin sei wohl nichts für ihn gewesen, mutmaßt der 31-jährige.

Das glauben hier viele. Brüssel sei eben doch ein anderes Pflaster als Berlin, meint ein Arzt, ein Nachbar der Schulz'. Martin habe sich keinen Gefallen damit getan, von der Europa- in die Bundespolitik zu wechseln. Wie sie mit ihm in der Partei umgegangen seien, hält er für bedenklich: "Wer will denn künftig solche Aufgaben noch übernehmen?" Auch wenn Martin Fehler gemacht habe, etwa seine Kehrtwende in der Frage, ob die SPD erneut eine Groko wagen soll.

Nachbarin Nummer zwei hält die Kritik an Schulz für überzogen. "Früher haben Politiker auch oft ihre Meinung geändert - und niemanden hat es gekümmert", sagt die Lehrerin, die als Kind in Schulz' Nähe wohnte.

Ein Freund aus der Politik erzählt, er habe mit ihm vor ein paar Tagen gesprochen. Es gehe Martin nicht gut, berichtet er. Gesehen haben sie ihn im Ortskern des 40.000-Einwohner-Städtchens schon länger nicht mehr. Die Verkäuferin in der Bäckerei nicht, wo Schulz sonst gern sein Brot kaufte. Und die Jugendfreunde nicht, zu denen er sonst zumindest losen Kontakt hielt.

Dietmar Schultheis macht ihm das nicht zum Vorwurf. "Das ist doch klar. Der Martin hatte doch jeden Tag mit einem neuen Ding zu kämpfen." Er, der als Kind jahraus, jahrein mit ihm zusammen auf dem Fußballplatz stand, fieberte die ganzen Monate mit: "Wir waren eng befreundet, bis wir 16 waren. Ich weiß, was er fühlt und wie es ihm in bestimmten Situationen geht."

Erschrocken sei er gewesen, wie sich Martin über die Zeit äußerlich verändert habe, sagt Schultheis. "Der Alterungsprozess war enorm: Die Augenringe wurden dicker und dicker. Es muss für ihn eine physische und psychische Tortur gewesen sein." Schultheis meint, dass Martin für die Polit-Mühle in Berlin zu sensibel sei. Vor allem den Druck durch die Umfrage-Ergebnisse habe er wohl unterschätzt. Und er habe viel zu viel Wert auf Berater gelegt.

"Martin, warum zweifelst Du nur jetzt so stark an Dir?", habe er sich gefragt, sagt Schultheis, als er die Wahlkampf-Reportage über Schulz im "Spiegel" las. Über all den guten Ratschlägen in seinem Umfeld habe er wohl am Ende seine Persönlichkeit verloren.

Natürlich habe Martin auch Fehler gemacht. Warum ihn die Partei jetzt aber so über die Maßen hart abstrafe, darüber habe er viel nachgedacht. Offenbar habe sich Martin am Ende viele Gegner in der eigenen Partei gemacht. Martin Schulz selbst will sich zu alldem zurzeit nicht äußern.

Der Jugendfreund glaubt, Martin habe zeitweise so unter Druck gestanden, dass er bei der Wahl seiner Mittel nicht mehr zimperlich gewesen sei. "Wenn er im Kampfmodus ist, kann er völlig neben sich stehen", sagt Schultheis. Hinterher tue ihm das immer leid.

An diesen Charakterzug können sie sich auch in der Gaststätte Houben erinnern, jener Kneipe, in der Martin einen Großteil seiner Jugend verbrachte. Friedhelm, dunkle Haare, gerötete Wangen, hat schon vor über 40 Jahren hier mit ihm am Tresen gestanden. Bis Schulz merkte, dass es mit dem Trinken so nicht weiter ging, einen Entzug machte und bis heute abstinent ist.

Bei Houben ist der berühmte Sohn der Stadt vielen so präsent wie nirgends sonst in Würselen. Die Zeit scheint hier stehengeblieben. Die Musikanlage spielt Songs aus den 1960er Jahren, auf den blankgescheuerten Holztischen stehen neben den Bierdeckelständern Topfpflanzen, und hinter dem Tresen zapft Jupps Schwester Bier. So wie sie es auch damals schon gelegentlich machte.

Friedhelm hat hier heute seinen Chorabend, zur Probe geht es die Treppe hinauf in den Saal über dem Schankraum. Etwas Zeit für ein Getränk bringt er aber meist mit. Genau wie Gabi und Petra. "Der Martin hat Würselen bekannt gemacht. Früher hieß es: Würselen bei Aachen. Heute heißt es Aachen bei Würselen", scherzt Friedhelm. Petra will es dabei nicht belassen: "Meine Mutter hätte Martin geraten, immer erst bis zehn zu zählen." Viel zu impulsiv sei er - und habe deshalb zu schnell zu viel versprochen. Nicht ins Kabinett Merkel zu gehen, zum Beispiel. Der Machtmensch, für den ihn jetzt viele hielten, sei er eigentlich gar nicht.

Auch Gabi kann in dem Schulz aus dem Fernsehen nicht mehr den Martin aus Würselen erkennen. "Er wirkte die ganze Zeit über fremd auf uns." Kaum jemals habe er den richtigen Ton getroffen. Anders als früher, da sei er ganz nah bei den Bürgern gewesen. Je länger das Gespräch im Houbenschen Dämmerlicht dauert, desto mehr kritische Töne mischen sich unter. "Am Ende wurde er unglaubwürdig, das ärgert mich", setzt Gabi nach. "Ich weiß nicht, ob ich nächstes Mal wieder SPD wähle."

(kib)
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