Sein Leben auf 220 Seiten Hendrik Wüst – Ein Mann, der nicht über rote Ampeln geht

Düsseldorf · Auf 220 Seiten schildern zwei Reporter das politische Leben des 48-Jährigen. In ihrer Biografie zeichnen sie lange Linien in Zeiten des Kurzzeitgedächtnisses. Mit dabei: Verkehrsregeln, Gewehre beim Junggesellenabschied und Friedrich Merz.

Hendrik Wüst - Landtagswahl NRW 2022 - CDU: Das ist NRW-Ministerpräsident
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Das ist Hendrik Wüst

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Foto: dpa/Marcel Kusch

Als Reporter erlebt man allerlei Nonsens, wer wüsste das besser als ein Reporter. Man wartet stundenlang darauf, dass etwas passiert, das man der Leserin, dem Leser, an dieser Stelle präsentieren könnte: Sehen Sie, so ist das nämlich! Die meiste Zeit aber geschieht das normale Leben, und das ist dann doch manchmal stinklangweilig. Die Reporter Tobias Blasius und Moritz Küpper haben sich nun ein Beobachtungsobjekt ausgesucht, das es sich zum Prinzip erhoben hat, Reportern wenig Stoff zu bieten: Hendrik Wüst.

Den 48 Jahre alte Rhedenser, wie man offenbar im Westmünsterland sagt, nennen die Journalisten in ihrer soeben erschienenen Biografie „Machtwandler“. Was genau das bedeutet und woher die etwas seltsam anmutende sprachliche Anlehnung an „Schlafwandler“ stammt, lässt sich auch nach Lektüre der knapp 220 Seiten nicht mit absoluter Sicherheit sagen.

Was Blasius und Küpper, die für die Funke-Gruppe und den Deutschlandfunk tätig sind, aber herausarbeiten, ist das Bild eines Machthungrigen. Wüst, der sich so um die Kontrolle seiner Bilder bemüht, dürfte manche Assoziationen, die bei der Lektüre des Buches entstehen, jedenfalls nicht nur begrüßen. Die Autoren schildern einen Mann, der so ziemlich das Gegenteil von Armin Laschet sein möchte.

Wüst mit Ehefrau Katharina und Tochter Philippa 2022 auf dem Weg ins Wahllokal.

Foto: dpa/Rolf Vennenbernd

So eröffnen sie das Buch mit einer zufälligen Begegnung zwischen Wüst und einem der Reporter in Düsseldorf. Wüst, damals NRW-Verkehrsminister, läuft gerade zwischen Stadttor und Landtag herum, als die beiden ins Plaudern geraten. Sie landen an einer roten Ampel, Autos sind offenbar nicht in Sicht. In der Biografie liest sich die Szene so, als finde in beiden ein Abwägungsprozess statt: gehen oder stehen? Wüst wird mit den Worten zitiert: „Ich darf nicht.“

Es ist eine Sorge, die sich an verschiedenen Stellen findet: Wüst fürchtet ein Foto oder Video, das in den Untiefen des Internets irgendwann auftauchen und auf diese Weise seine Glaubwürdigkeit angreifen könnte. So auch bei einem Junggesellenabschied, bei dem er mit einer Gruppe Männer am Schützenstand landet. Wüst soll seine Mitstreiter gebeten haben, die Handys vorab wegzulegen, er wolle nicht mit Waffe gesehen werden. Eine Szene, die noch weit vor dem ununterbrochenen Dauergefilme der Gegenwart stattgefunden haben soll.

Es ist ein mitunter unterschwelliger Vorwurf, der Hendrik Wüst immer wieder gemacht wird: Er sei zu kontrolliert. Als er während der Pandemie in das Licht der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit trat, irritierte er in Fernsehauftritten mit gelegentlich mechanisch wirkenden Sprechpausen. Das hat er weitgehend abgelegt. Aber es diente Kritikern als Symbol für seine mangelnde Spontaneität und Lockerheit.

Das Buchcover.

Foto: Verlag

Eine WDR-Journalistin bemerkte im Landtagswahlkampf Wüsts Fähigkeit, professionell zwischen den verschiedenen Szenarien hin- und herschalten zu können. Wüst reagierte darauf mit der Gegenfrage, ob sie denn von Nicht-Politprofis regiert werden wolle. Es bleibt eine zeitgemäße und interessante Frage, wie viel Raum die blitzschnell urteilende Aufmerksamkeitsökonomie Politikern für Fehler oder Nachlässigkeiten lässt. Armin Laschet hat eine Antwort auf diese Frage, Hendrik Wüst die Konsequenz daraus gezogen.

Der insgesamt sehr lesenswerten Biografie wünschte man gelegentlich eine weitere gedankliche Ebene, um auf grundsätzliche Erwägungen des Politikgeschäfts einzugehen. Sie verbleibt an manchen Stellen im beschreibenden Feld und verpasst so manche Chance zur Orientierung. Womöglich wollten die Autoren dem Leser allerdings die Möglichkeit eines eigenen Urteils erlauben. Dafür bieten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte.

Hendrik Wüst lernen die Leser schon als 14-jährigen engagierten Jungpolitiker in Rhede kennen, der sehr frühzeitig beginnt, Netzwerke und Machtstrukturen zu durchdringen und aufzubauen – und die ihm Jahrzehnte später noch immer nutzen. „Ein vollständiges Organigramm der Wüst-Vertrauten ließe sich nicht einmal in Schriftgröße vier auf eine Din-A3-Seite bannen“, schreiben Blasius und Küpper anschaulich.

Viel Raum geben sie zudem der für Wüst im Rückblick eher unrühmlichen Station als Generalsekretär der NRW-CDU unter Jürgen Rüttgers. Geschildert wird ein unbeholfener, übermotivierter junger Mann, der sich in Ton und Stil vergreift. Jüngere Geschichte, an die diese Biografie erinnert, die angesichts der heutigen Ministerpräsidenten-Gegenwart unwahrscheinlich erscheint.

Wenig überraschend beantwortet das Buch die Frage, ob Hendrik Wüst nun Friedrich Merz als Kanzlerkandidat der Union herausfordern wird, nicht. Wie auch.

Sitzen die Haare? Hendrik Wüst im Mai 2023 in Finnentrop.

Foto: IMAGO/Funke Foto Services/Ralf Rottmann/IMAGO

Dennoch kommen die Autoren nicht umher, das Thema anzufassen, und stellen eine Reihe von Suggestivfragen. Dafür kommt Friedrich Merz zu Wort, der die Chuzpe besitzt, zu erklären, er habe Wüst selbst geraten, mit der Kanzlerkandidatur zu kokettieren. Sonst erginge es ihm wie einst seiner Vorvorgängerin Hannelore Kraft. Das ist einerseits eine Binsenweisheit und wirkt andererseits ein bisschen gönnerhaft.