Gastbeitrag zum 1. Mai Arbeit im Post-Corona-Zeitalter? Ja, aber anders!

Meinung | Duisburg · Der Co-Vorsitzende der Grünen in NRW, Felix Banaszak, entwirft zum Tag der Arbeit seine Vision einer Arbeitswelt nach dem Ende der Pandemie.

 Felix Banaszak ist Co-Vorsitzender der Grünen in NRW.

Felix Banaszak ist Co-Vorsitzender der Grünen in NRW.

Foto: dpa/Marcel Kusch

Der Tag der Arbeit findet in diesem Jahr zum zweiten Mal in Folge unter Pandemiebedingungen statt. Dass Demonstrationen und Kundgebungen erneut ausfallen, darf aber nicht dazu führen, die großen sozialen Herausforderungen unserer Zeit aus dem Blick zu verlieren.

Meine Vorfahren sind vor einem Jahrhundert als Arbeitsmigranten aus Polen ins Ruhrgebiet, nach Duisburg gekommen. Die soziale Frage war für meine Familie immer auch eine persönliche. Vielleicht hat mich ein Buch, das im Winter veröffentlicht wurde, auch deshalb sehr berührt. „Working Class“ heißt es, geschrieben wurde es von der Journalistin Julia Friedrichs. Friedrichs beschreibt Erwerbsbiografien, die stellvertretend für Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt stehen: Bahnhofsreiniger, die pro Berliner U-Bahnhof 70 Minuten Zeit haben, egal, wie viel und was sie wegputzen müssen, und dafür gut 10 Euro pro Stunde verdienen. Karstadt-Mitarbeiter, die mitansehen mussten, wie erst die Kolleginnen ihren Job verloren, dann sie selbst - während trotz massiver Managementfehler für die CEOs Millionenabfindungen gezahlt wurden. Musikschullehrerinnen, die - hochqualifiziert und gleichzeitig prekär beschäftigt - schon vor der Pandemie nicht krank werden durften, weil das Verdienstausfall bedeutet hätte.

All diese Geschichten stehen stellvertretend für die Erfahrungen vieler Millionen Menschen, die allein von ihrem Lohneinkommen leben, nicht von Kapitalanlagen oder Erbschaften. Das ist mehr als die Hälfte der Deutschen. Acht Millionen - oder 21 Prozent - von ihnen arbeitete für Niedriglöhne. 3,5 Millionen brauchen gar zwei Jobs, um über die Runden zu kommen. Am Ende des Erwerbslebens droht ihnen Altersarmut. Und mit dem digitalen Wandel wächst die Angst, wegrationalisiert zu werden oder sich als Teil eines neuen Dienstleistungsprekariats wiederzufinden.

Das alles ist nicht die Folge von Naturgesetzen, sondern das Ergebnis einer Politik, die die Humanisierung einer Arbeitswelt im Wandel über Jahrzehnte verschlafen hat. Die Auswirkungen von Globalisierung und digitaler Transformation sind groß, aber die Politik darf nicht ohnmächtig an der Seite stehen bleiben. Die große Aufgabe der nächsten Bundesregierung wird sein, diese tiefgreifenden Transformationsprozesse aktiv zu gestalten und damit im Wandel Sicherheit zu schaffen. Daraus lassen sich aus meiner Sicht drei zentrale Projekte ableiten:

Erstens: Gute Arbeit sollte sich über sinnstiftende Tätigkeiten, gesunde Arbeitsbedingungen und faire Löhne definieren. Weniger Leiharbeit, weniger Werkverträge, mehr Tarifbindung, bessere Bezahlung insbesondere von Sorgearbeit wie in der Pflege und als Basis zwölf Euro Mindestlohn für Alle – dieses Ziel bleibt richtig und aktuell.

Zweitens: Wir brauchen einen gesetzlichen Rahmen für die Arbeitswelt der Zukunft, für Arbeitsschutz und Mitbestimmung in der digitalen Transformation. Plattformökonomie darf nicht länger Synonym dafür sein, dass man ohne Schutz von heute auf morgen auf der Straße stehen kann. Die „UBERisierung“ der Arbeitswelt braucht Grenzen. Und ja, wir brauchen ein Recht auf Home Office - aber Home Office darf nicht bedeuten, immer und überall erreichbar zu sein.

Und drittens: Mehr als die Hälfte der Kinder, die heute zur Schule gehen, werden einmal in Berufen arbeiten, die es heute noch nicht gibt. In einer Welt, die sich so rasant verändert, müssen wir uns neu aufstellen – zum Beispiel mit einem Recht auf Weiterbildung, mit dem Umbau der Arbeitslosen- zu einer Arbeitsversicherung und einem Bildungssystem, das auf die Zukunft vorbereitet.

Diese Punkte beschreiben exemplarisch eine Arbeitsmarktpolitik, die mehr sein kann als fantasielose Verwaltung des Status Quo. Wir dürfen die Arbeitswelt nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Mit etwas Mut, davon bin ich überzeugt, lässt sich eine Arbeitswelt der Zukunft schaffen, die gesellschaftliche Verwerfungen verhindert. Diesen Anspruch muss Politik an sich selbst stellen. Tut sie das nicht, macht sie sich überflüssig.

Felix Banaszak (31) ist seit 2018 Landesvorsitzender der nordrhein-westfälischen Grünen und lebt in Duisburg. Mitte April wurde er auf Platz sechs der Grünen Landesliste für den Bundestag gewählt.

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