Kommentar zur Regierungsbildung in NRW Grün-Rot von linken Gnaden

Hannelore Kraft hat geschafft, was Andrea Ypsilanti in Hessen verwehrt blieb. Sie ist aus unklarer Gemengelage heraus Ministerpräsidentin geworden, hat einen wenig populären Regierungschef abgelöst und steht als erste Frau an der Spitze eines bedeutenden Flächenlandes.

Die letzten Meter in die Staatskanzlei hat sie souverän zurückgelegt, nachdem sie vorher kurzzeitig auch zur Besorgnis der eigenen Leute durch die politische Landschaft geirrlichtert war ("Regieren aus der Opposition"). So bekam die Sozialdemokratin gestern die Blumensträuße. Aber die Architektin der als attraktiver Neubau verkauften Notunterkunft Minderheitsregierung saß bei den Grünen: Sylvia Löhrmann.

Die künftige Schulministerin hat Kraft in diese Regierung gedrängt und zudem den Koalitionsvertrag grün eingefärbt. Die alte, großindustriell orientierte Kohle-Beton-Chlor-Sozialdemokratie jedenfalls hat bei diesem Regierungsprogramm nicht mehr die Feder geführt. Im Industrie- und Energieland NRW gibt es bald mehr Grün-Rot als Rot-Grün. Dass das kaum thematisiert wird, liegt an dem Feminat an der Spitze dieser Koalition.

Kraft/Löhrmann strahlen Harmonie aus

Unaufgeregt und stilsicher heben sich Kraft/Löhrmann und ihre Berater wohltuend vom Parteiengezänk und teilweise auch von der Vorgängerregierung ab. Das sorgt in einer für Komplexität weniger, für symbolhaftes Handeln umso mehr empfänglichen Öffentlichkeit für ein zunehmend positives Bild dieser eigentlich handlungsunfähigen Minderheitsregierung. Kraft/Löhrmann geben sich maßvoll, aber entschlossen. Vor allem strahlen sie Harmonie aus. Sie liefern die Blaupause für künftige Regierungsbildungen im Fünf-Parteien-System und paradoxerweise vor allem ein Gegenbild zu der mit satter Mehrheit ausgestatteten, aber zerstrittenen schwarz-gelben Bundesregierung.

Dies und Kraft/Löhrmanns Wohlfühlrhetorik von der "Koalition der Einladung" täuschen jedoch über den unaufgelösten Widerspruch dieser Koalition hinweg: Sie muss sich für jede Entscheidung aufs Neue eine Mehrheit suchen.

Die demonstrativ ausgestreckten Hände in Richtung Union und FDP, der Hinweis auf die "wachsende Bedeutung des Parlaments" sollen vor allem die angesichts des Minderheits-Experiments skeptische Mehrheit der NRW-Bürger beruhigen. Doch Rot-Grün hat immer betont, einen Politikwechsel anzustreben. Der besteht darin, die Uhr um fünf Jahre zurückzudrehen und den "Betriebsunfall Schwarz-Gelb" auf allen Feldern zu korrigieren. Wie sollen Union und FDP dem zustimmen können, ohne sich aufzugeben?

So steht für Rot-Grün als Mehrheitsbeschaffer nur die Linkspartei bereit. Rot-Grün wird diese De-facto-Koalition mit der Linken im Wortsinne teuer erkaufen müssen: mit neuen Schulden für soziale Wohltaten. Kraft/Löhrmann müssen sehr biegsam bleiben, wenn ihre Amtszeit nach Jahren und nicht nach Monaten gezählt werden soll.

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