30 Jahre nach dem Brandanschlag Das Erinnern in Solingen als Mahnung

Solingen · 30 Jahre nach dem Brandanschlag von Solingen ging es beim zentralen Gedenken um das Verbrechen von damals und die Herausforderungen heute. Nicht nur Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fand kritische Worte, er sprach von einem „braunen Nährboden“.

Fotos: Brandanschlag in Solingen vor 30 Jahren - so war die Gedenkfeier
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So verlief die Brandanschlag-Gedenkfeier 2023 in Solingen

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Foto: Peter Meuter

Özlem Genç, eine junge Frau vorne auf der Bühne des vollbesetzten Saals im Theater und Konzerthaus Solingen, schilderte frühe Erinnerungen. Wie sie, 1999 geboren, als Kind über die von Brandwunden vernarbten Arme ihres Vaters Bekir Genç strich und keine Erklärung dafür bekam, wie diese Spuren entstanden waren. „Schweigen muss wohl die Sprache der Schmerzerfüllten sein“, sagte sie. Immer sei da etwas gewesen in der Familie, „wie eine dunkle Wolke, die über unseren Köpfen schwebte“, ein „unverstandenes, dunkles Gefühl“.

Sie erinnerte an ihre fünf Angehörigen, die im Jahr 1993 bei dem Brandanschlag von Solingen starben, der auf den Tag genau vor 30 Jahren Deutschland erschüttert hatte. Hatice Genç (18), die Bankkauffrau werden wollte. Gürsün Ince (27), Gülüstan Öztürk (12), Saime Genç (4), die sich so auf den Kindergarten gefreut hatte, und Hülya Genç (9), die so aufgeregt war, beim anstehenden Feiertag ein ganz neues Kleid anzuziehen.

In der Nacht zum 29. Mai 1993 wurden diese fünf jungen Menschen bei dem verheerenden Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç aus dem Leben gerissen, 14 weitere Familienmitglieder erlitten folgenschwerste Verletzungen. Es war eines der schrecklichsten fremdenfeindlichen Attentate in Deutschland, eingebettet allerdings in eine Reihe von Angriffen auf zugewanderte Menschen.

Özlem Genç mahnte zurückblickend: „Nach jedem ,Nie wieder‘ ist es immer wieder passiert.“ Sie richtete sich an die Politik: Wenn man eine Wahl gewinne, indem man die Schwächsten zur Zielscheibe mache, „dann mag es scheinen, dass man gewonnen hat. Aber in Wirklichkeit hat man dann verloren.“ Das Publikum erhob sich von den Plätzen, um Beifall zu spenden. Ihre Rede war ein emotionaler Höhepunkt der zentralen Gedenkveranstaltung in Solingen.

30. Jahrestag Brandanschlag Solingen: Einweihung Mevlüde-Genc-Platz
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Mevlüde-Genç-Platz in Solingen eingeweiht

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Foto: Guido Radtke

Unter den Zuhörenden waren Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), zahlreiche Ministerinnen und Minister der Bundes- und der nordrhein-westfälischen Landesregierung.

Steinmeier hatte sich vor der Gedenkveranstaltung bereits mit Mitgliedern der Familie Genç getroffen. Später trug der sich ins Goldene Buch der Stadt ein, nach ihm Hendrik Wüst und Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). Schon in den Tagen zuvor gab es in Solingen Aktionen zum Gedenken. Am Pfingstsonntag benannte die Stadt einen Platz nach Mevlüde Genç. Sie hatte bei dem Anschlag zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren und sich seit der Tat bis zu ihrem Tod mit großem Engagement für Versöhnung und gesellschaftlichen Zusammenhalt eingesetzt.

Auch die Vertreter der Politik schlugen in ihren Reden den Bogen vom „Damals“ zum „Heute“. Frank-Walter Steinmeier sprach über einen „braunen Nährboden“ im Land. Rechtsextreme Strukturen und Ideologien seien lange übersehen, ignoriert oder verdrängt worden. „Viel zu lange saß unser Land der durch nichts gestützten, aber ständig wiederholten Behauptung auf, es seien verblendete Einzeltäter, die ihr Unwesen treiben“, sagte Steinmeier. „Es gibt eine Kontinuität von rechtsextremer Gewalt in unserem Land.“

Es brauche einen wehrhaften, wachsamen und aufrichtigen Staat. Er sei fassungslos, wenn er höre, dass Angehörige von Sicherheitsbehörden sich in rechten Chatgruppen organisierten. Auch prangerte er Vorurteile und Diskriminierungen im Alltag an: „Der alltägliche Rassismus bei der Jobsuche, bei der Wohnungssuche, bei der Fahrkartenkontrolle“ gründe auf tiefsitzenden Ressentiments.

Auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst richtete den Blick auf subtile Diskriminierung im Alltag, Hetze im Netz, die Zunahme rechtsextremer Propaganda und das Handeln von Behörden. Die Opfer der rechtsextremen Terrorgruppe NSU etwa seien zweimal zu Opfern geworden – durch die Morde und durch das Versagen des Staates. „Der Rassismus ist auch nach dem 29. Mai 1993 nicht verschwunden“, sagte Wüst. Mehrfach gab es für ihn Beifall während seiner Rede. Unter anderem nach seinen Worten: „Nordrhein-Westfalen verneigt sich in Dankbarkeit vor Mevlüde Genç.“

Der stellvertretende türkische Außenminister Yasin Ekrem Serim wiederum dankte der Stadt Solingen für das Gedenken. Er würdigte auch die Hilfe, die nach dem schweren Erdbeben in der Türkei aus Deutschland kam. Doch er beklagte auch, wie viele Tote es in Deutschland inzwischen durch Rassismus gegeben habe, und warnte vor „niederträchtigen Angriffen“ gegen Muslime.

NRW-Integrationsministerin Josefine Paul (Grüne) richtete den Blick bei der Gedenkveranstaltung nicht allein auf die Probleme und Defizite. Sie hob hervor, wie weit die Gesellschaft sich entwickelt habe. Es gebe heute das Bekenntnis, ein Einwanderungsland zu sein, ein Integrationsgesetz, das Teilhabe verlangt, und eine starke migrantische Gemeinschaft, die diese einfordert. „Wir sind vielleicht wacher, heute. Und vielleicht sind wir gemeinsam stärker geworden in unserem Bestreben, unsere gemeinsame Gesellschaft zu gestalten“, sagte Paul.

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