Machtpoker in NRW Der Weg zur Entscheidung in Düsseldorf

Im Landtag überschlugen sich die Ereignisse. Mit ihrer spektakulären Ankündigung, jetzt doch eine rot-grüne Minderheitsregierung zu bilden, hat SPD-Landeschefin Hannelore Kraft Verblüffung, Ratlosigkeit und Kritik ausgelöst. Bis dahin hatte sie immer wieder beteuert, "Politik aus der Opposition heraus" betreiben zu wollen.

Kraft will Ministerpräsidentin werden
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Donnerstagmittag, 12.10 Uhr. Sylvia Löhrmann, die Spitzenkandidatin der Grünen, sitzt in ihrem Büro und telefoniert mit der Ruhr-Uni in Bochum, als eine Mitarbeiterin ihr einen Zettel zusteckt. Hannelore Kraft bitte dringend um Rückruf, heißt es. Löhrmann kommt nicht mehr dazu. Als sie ihr Gespräch beendet hat, erscheint die SPD-Chefin persönlich. Die Spitzenfrauen tauschen sich unter vier Augen aus. Das Gespräch ist herzlich. 15 Minuten später steht die Grundlage für die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung in NRW. Die Frauen vereinbaren, zunächst strikte Vertraulichkeit zu wahren.

Wenig später erscheint Löhrmann in der Landtagskantine, lässt sich auf der Terrasse nieder. Sie genießt Lammsteak mit Speckbohnen und Gratinkartoffeln und gibt sich ahnungslos — eine gute schauspielerische Leistung sei das gewesen, wird sie später dazu sagen. Nach der Abstimmung mit Löhrmann eilt Kraft in ihre Fraktionsräume zurück. Der Fraktionsvorstand und die Sondierungskomission der SPD haben sich schon am Vormittag in einem Besprechungsraum versammelt. Kraft berichtet den Politikern, wie es zu der Wende gekommen ist.

Schon am Mittwochabend hatte ein Interview von FDP-Chef Pinkwart für Aufregung bei der SPD gesorgt. Die Äußerungen Pinkwarts wurden als Absetzbewegung von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) gedeutet. Sollte nun eine neue Situation eintreten? Noch kurz zuvor hatte Kraft in Hintergrundgesprächen mit Journalisten erklärt, es gebe keinen Anlass für die schnelle Bildung einer Minderheitsregierung. Die Grünen hatten dies hingegen vehement gefordert. Kraft ist unschlüssig, wie sie handeln soll.

Rüttgers entsetzt SPD

Dann gibt nach Lesart der SPD ein Interview von Rüttgers im ZDF-Morgenmagazin den Ausschlag. In dem Gespräch lehnt Rüttgers seinen Rückzug unter Verweis auf die Landesverfassung ab, die dies nicht gestatte. Gleichzeitig bietet der CDU-Vorsitzende erneute Verhandlungen über eine große Koalition an. Bei der SPD ist man entsetzt. "Der hat den Schuss immer noch nicht gehört", höhnt ein Fraktionsmitglied. Die Sondierungsgespräche seien nicht ohne Grund beendet worden. Es sein unverantwortlich, den "Autisten in der Staatskanzlei" noch länger schalten und walten zu lassen.

Bei den Sozialdemokraten ist schon seit dem Wochenende niemand mehr auch nur noch ansatzweise gut auf die CDU zu sprechen. Rüttgers und CDU-Generalsekretär Andreas Krautscheid haben Hannelore Kraft schwer verärgert. Sie sollen einem Nachrichtenmagazin unzutreffende Informationen über den Verlauf eines Acht-Augen-Gesprächs zwischen den Spitzen von CDU und SPD zugespielt haben, mutmaßen Sozialdemokraten.

Die Union habe gezielt Unwahrheiten verbreitet, beschwert sich auch die SPD-Chefin. Damit habe die Union "erneut bewiesen", dass sie nicht in der Lage sei, eine "neue politische Kultur" in NRW herbeizuführen. Das Rüttgers-Interview im Morgenmagazin habe das Fass zum Überlaufen gebracht, heißt es bei der SPD.

Telefonkonferenz besiegelt Vorhaben

Hannelore Kraft hat sich seit dem Beginn der Sondierungsgespräche stets darum bemüht, die Partei in alle Entscheidungen über den künftigen Kurs einzubinden. Niemand soll ihr vorwerfen können, einsame Beschlüsse zu treffen. Nun, da die Würfel zur Bildung einer rot-grünen Regierung gefallen sind, ruft sie kurzfristig den Parteivorstand ein. Die Mitglieder erhalten gegen 13.30 Uhr die Einwahldaten für eine Telefonkonferenz. Die beginnt schon 30 Minuten später.

Kraft erläutert den Genossen die neue Lage aus ihrer Sicht. Ein Mitglied fragt nach, ob es Signale von der FDP gebe, eine Minderheitsregierung zu tolerieren. Dies sei nicht der Fall, heißt es. Es habe keinen persönlichen Kontakt zu den Liberalen gegeben. Im Parteivorstand gibt es keinen Widerstand gegen die neue Linie.

Um 15.30 Uhr treten Kraft und Löhrmann vor die Presse und begründen ihren Schritt. Nach der von Pinkwart angeblich aufgekündigten Koalition habe der geschäftsführende Ministerpräsident Jürgen Rüttgers nur noch die 67 Stimmen der CDU im Landtag, Es werde höchste Zeit für "stabilere Verhältnisse", sagt Hannelore Kraft. Zu diesem Zeitpunkt kursiert das Gerücht, Pinkwart könne der SPD doch signalisiert haben, Kraft als Regierungschefin mitzuwählen.

Abweichler bei geheimen Wahlen möglich

Kraft braucht nur eine Stimme jenseits von Rot-Grün (90 Stimmen), und sie wäre bereits im ersten Wahlgang als neue Regierungschefin gewählt. Die Wahl, die voraussichtlich am 13. oder 14. Juli stattfinden soll, wird geheim sein. Nie werde man feststellen, woher die entscheidende 91. Stimme stamme. Im Zweifelsfalle könne man sie ja der Linken zuschreiben, so das Kalkül. Nach einer "Schamfrist" könnte Rot-Grün dann im Spätherbst der FDP ein Angebot zur Regierungsbeteiligung machen, das die Liberalen — beziehungsweise Teile davon — kaum ablehnen könnten. Ob die FDP eine solche Spannungssituation aushielte oder darüber zerbräche — wer kann das jetzt schon sagen? Oder sind alles aberwitzige Spekulationen?

FDP-Landeschef Andreas Pinkwart macht jedenfalls nicht den Eindruck, als bereite er einen Deal mit der SPD vor, als er um 16.30 Uhr im Landtag eine Erklärung abgibt. Er wirft Hannelore Kraft einen "Akt der Verzweiflung" vor. Die Begründung, er habe mit seiner Interview-Äußerung die Wende herbeigeführt, sei absurd. SPD und Grüne ließen vielmehr jetzt "die Katze aus dem Sack".

Hannelore Kraft habe jedoch nicht das Heft in der Hand, sondern lasse sich von Parteichef Sigmar Gabriel in die Ypsilanti-Falle locken, weil sie als Ministerpräsdentin auf die Tolerierung durch die Linkspartei angewiesen sei. Pinkwart beteuert, dass Rüttgers bei der Wahl des Ministerpräsidenten alle Stimmen der FDP bekommen werde.

Inzwischen hat die Linkspartei bei einer Klausurtagung im bergischen Nümbrecht von den sich überstürzenden Ereignissen im Landtag erfahren. Fraktionschef Wolfgang Zimmermann gibt auf dem Rückweg in die Landeshauptstadt in seinem Auto Interviews. "Wir werden uns nicht gegen die Wahl von Frau Kraft sperren", kündigt er an. Ob sich seine Fraktion bei der Wahl des Regierungschefs enthalte oder zustimme sei aber noch ungewiss. "Wir gehen davon aus, dass Rot-Grün jetzt mit uns jetzt Kontakt aufnimmt", sagt Zimmermann. Welchen Preis werden die Linken von der SPD verlangen, die sie noch vor wenigen Wochen als demokratisch unsichere Kantonisten eingestuft und das Sondierungsgespräch bereits nach wenigen Stunden abgebrochen hat?

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