Analyse Der Skandal um Atomforschung in Jülich
Jülich · Mit dem Ausstieg aus der Atomenergie ist den Grünen ihr wichtigstes Thema abhandengekommen. Deshalb kritisieren sie jetzt die Atomforschung. Das Forschungszentrum Jülich bietet ihnen eine breite Angriffsfläche. Der grüne NRW-Umweltminister Johannes Remmel stellt die Atomforschung dort sogar ganz infrage.
Als das Jülicher Kernkraftwerk AVR ("Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor") nach einer Serie von Störfällen vor rund 25 Jahren vom Netz ging, atmete Nordrhein-Westfalen auf. Die Öffentlichkeit, weil sie noch nie verstanden hat, was das Reaktor-Experiment im äußersten Westen der Republik eigentlich sollte. Die Landesregierung, weil sie eine tickende Zeitbombe entschärft zu haben glaubte. Das benachbarte und oft federführende Forschungszentrum Jülich, weil die Wissenschaftler schon damals am Pranger standen. Und das Betreiberkonsortium der 15 kommunalen Elektrizitätswerke, weil es endlich kein Steuergeld mehr in den gescheiterten Großversuch pumpen musste. Der Hochtemperaturreaktor (HTR) war nach 22 Betriebsjahren wegen zu hoher Kosten und Risiken an dem Ziel gescheitert, eine neue Atomkraft-Technik zu etablieren.
Inzwischen will Deutschland überhaupt keine Atomkraft mehr. Paradoxerweise reißt aber gerade die Energiewende die alten AVR-Wunden wieder auf. Seit Jahresanfang werden plötzlich auch die - immer noch subventionierten - atomaren Restforschungen in Jülich kritisiert, tauchen neue Untersuchungsberichte zu 28 Jahre alten Störfällen auf, werden horrende Kosten für die Entsorgung der Reaktorruine kolportiert und Berufsverbote für die wenigen Jülicher Wissenschaftler diskutiert, die dort noch Atomkraft erforschen. Warum gerade jetzt?
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) 2011 den deutschen Atom-Ausstieg verkündete, kam den Grünen ihr wichtigstes Thema abhanden: Ihr Slogan "Atomkraft - nein Danke", mit dem sie 1983 den Sprung in den Bundestag schafften, war plötzlich Allgemeinplatz. Deshalb entwickeln die Anti-Atomkraft-Experten der Partei gerade ein neues Thema. Aus dem Feindbild "Atomkraft" wird jetzt das Feindbild "Atomkraft-Wissenschaft". Stellvertretend formulierte NRW-Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) gestern die neue Argumentation: "Die Mehrheit der Deutschen hat sich klar gegen Atomkraft ausgesprochen. Sollte in Jülich tatsächlich an riskanten Techniken geforscht und der Bau eines neuen Atomkraftwerks in China unterstützt werden, stünde das im krassen Widerspruch zum Willen der Gesellschaft und der Politik - da hilft auch nicht das Deckmäntelchen der angeblichen Erforschung von Sicherheitstechniken. Atomforschung darf nicht mit öffentlichen Mitteln betrieben werden." Das Fallbeispiel Jülich ist geschickt gewählt. Denn das Forschungszentrum macht es seinen Kritikern leicht:
Technik Mit der HTR-Technik haben die Jülicher Wissenschaftler sich auf ein Verfahren spezialisiert, das weltweit gescheitert ist. Hochtemperaturreaktoren, auch Kugelhaufenreaktoren genannt, arbeiten mit besonders hohen Temperaturen, um neben der nuklearen Energie auch mehr Prozesswärme nutzen zu können. Die Technik ist aber teuer und verursacht noch mehr Atommüll als andere Kernkraftwerke. Außerdem ist sie noch störanfälliger. Deshalb setzte sie sich nie durch. Zuletzt beendete Südafrika 2010 nach einer schon erfolgten Milliarden-Investition die Kooperation mit dem Jülicher Forschungszentrum. In Deutschland sollte die Technik in Hamm-Uentrop den Durchbruch schaffen. Das dortige Kraftwerk wurde 1989 aber nach nur 423 Tagen Volllastbetrieb stillgelegt und gilt als Deutschlands größtes Technik-Debakel.
Kommunikation Das Forschungszentrum teilte noch vergangene Woche auf Anfrage mit: "Das Forschungszentrum Jülich betreibt keine Forschung im Zusammenhang mit der Gewinnung von Atomenergie. Es ist seit vielen Jahren nicht mehr an der Entwicklung von Reaktortechnologie beteiligt, auch nicht am Bau von Reaktoren." Fast zeitgleich stellte die Bundesregierung auf Anfrage der Grünen das Gegenteil fest. Demnach wird in Jülich immer noch der weltgrößte Versuchsstand für Kugelhaufenreaktorexperimente betrieben. Ebenso ein weiterer Versuchsstand für HTR-Versuche. "Die aktuellen Experimente in diesen bestehenden Versuchsanlagen werden seit 2012 über das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderte Projekt Target finanziert", schreibt das Bundesforschungsministerium. Außerdem unterstützen die Jülicher Forscher offenbar doch das weltweit einzig verbliebene HTR-Neubauvorhaben im chinesischen Shidao. Die Bundesregierung berichtet von zahlreichen Treffen der Jülicher Atomforscher mit ihren chinesischen Fachkollegen bis in die jüngste Vergangenheit. Auch von Auftragsarbeiten der Jülicher Forscher ist die Rede: "Diese Arbeiten dienten der Erhöhung der Sicherheit des sich im Bau befindlichen Kugelhaufenreaktors in China."
Mit diesen Widersprüchen setzt das Forschungszentrum die unglückliche Kommunikation seiner Vergangenheit fort. Vor wenigen Wochen legte eine unabhängige Expertenkommission ihren Bericht zur Geschichte des AVR vor. Demnach kam es dort immer wieder zu Störfällen und wahrscheinlich mindestens zweimal zur Kontaminierung der Umwelt. Die größten Probleme räumte Jülich aber erst zehn Jahre nach Betriebsschluss ein.
Kosten Der laufende Rückbau des Reaktors ist gefährlich. Er gilt als die am stärksten radioaktiv verseuchten Ruine Deutschlands. Der Fraktionsvize der Grünen im Bundestag, Oliver Krischer, sagt: "Es ist klar, dass der Rückbau weit über eine Milliarde Euro kosten wird." Bisherige Kosten in Höhe von 684 Millionen Euro räumte die Bundesregierung Anfang 2013 bereits ein. Hinzu kommen Kosten für die Sanierung des verstrahlten Erdreiches und für die Atommüll-Endlagerung.
Gut möglich, dass der Forschungsreaktor in Jülich am Ende noch für mehr Ärger sorgen wird als sein großer Bruder in Hamm.